Killinger Literaturkunde, Schulbuch

338 So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder. Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich. Das alles war doch immer so gewesen. Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie? Er lächelte sie verlegen an: Ach, sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg. Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an. Da hob er wieder die Uhr hoch und er lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehengeblieben ist. Ausgerechnet um halb drei. Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies. 53. Untersuchen Sie die Kurzgeschichte nach folgenden Gesichtspunkten: • Geben Sie das außere Geschehen, die Situation, kurz wieder. • Erlautern Sie das Verhalten und die Beziehung der Personen zueinander. • Erschließen Sie die Funktion des Dingsymbols „Uhr“ und des Schlusselworts „Paradies“ (vgl. S. 442). • Vergleichen Sie die Sprachform des Erzahlers und die der Figuren. • Analysieren Sie das Verhaltnis von erzahlter Zeit und Erzahlzeit (vgl. S. 444). Die in Wien geborene Schriftstellerin Ilse Aichinger (1921 – 2016) gehört zu den herausragenden Figuren der Nachkriegsliteratur in Österreich. Sie ist besonders durch ihre Kurzgeschichten und den Roman Die größere Hoffnung (1948) bekannt geworden. Die Texte von Ilse Aichinger sind eminent poetisch, sie entgrenzen die Wirklichkeit. Ilse Aichinger: Das Plakat (1948) „Du wirst nicht sterben!“, sagte der Mann, der die Plakate klebte, und erschrak über seine Stimme, als wäre ihm in der flirrenden Hitze sein eigener Geist erschienen. Dann wandte er den Kopf vorsichtig nach links und rechts, aber da war niemand, der ihn für verrückt halten konnte, niemand stand unter seiner Leiter. Der Stadtbahnzug war eben weggefahren und hatte die Schienen wieder ihrem eigenen Glanz überlassen. Auf der anderen Seite der Station stand eine Frau und hielt ein Kind an der Hand. Das Kind sang vor sich hin. Und das war alles. Die Stille des Mittags lag wie eine schwere Hand über der Station, und das Licht schien von seinem eigenen Übermaß überwältigt zu sein. Der Himmel über den Schutzdächern war blau und gewalttätig, im gleichen Maß bereit, zu schützen und einzu45 50 55 60 Entgrenzte Wirklichkeit 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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