DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 343 die Ohren und lauschte, doch er hörte nicht das Schreien der Menschen und das grelle Hupen des Rettungswagens. Die See begann zu fluten. „Ich sterbe“, dachte der Junge, „ich kann sterben!“ Er atmete tief, zum ersten Male atmete er. Eine Handvoll Sand flog ihm ins Haar und ließ es weiß erscheinen. Er bewegte die Finger und versuchte, einen Schritt vorwärts zu machen, wie das Kind es ihm gezeigt hatte. Er wandte den Kopf zurück und überlegte, ob er seine Kleider holen sollte. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Da fiel sein Blick noch einmal auf die Tafel gegenüber: „Das Betreten der Schienen ist verboten!“ Und plötzlich überfiel ihn die Angst, sie könnten ihn noch einmal erstarren lassen, lachend, mit weißen Zähnen und einem gleißenden Fleck in jedem seiner Augen; sie könnten ihm den Sand wieder aus dem Haar und den Atem wieder aus dem Mund nehmen, sie könnten die See noch einmal zu einem täuschenden Streifen unter seinen Füßen machen, worin keiner ertrinken konnte, und das Land zu einem hellen Flecken in seinem Rücken, worauf keiner stehen konnte. Nein, er würde seine Kleider nicht holen. Musste die See nicht zur See werden, damit das Land Land sein konnte? Wie hatte das Kind gesagt? So! Er versuchte zu springen. Er stieß sich ab, kam wieder zurück und stieß sich wieder ab. Und gerade, als er dachte, es würde ihm nie gelingen, kam ein Windstoß von der Brücke. Die See stürzte auf die Schienen und riss den Jungen mit sich. Der Junge sprang und riss die Küste mit sich. „Ich sterbe“, rief er, „ich sterbe! Wer will mit mir tanzen?“ Niemand beachtete es, dass eines der Plakate schlechter geklebt worden war, niemand beachtete es, dass eines davon sich losgerissen hatte, auf die Schienen wehte und von dem einfahrenden Gegenzug zerfetzt wurde. Nach einer halben Stunde lag die Station wieder leer und still. Schräg gegenüber war zwischen den Schienen ein heller Flecken Sand, als hätte es ihn vom Meer herübergeweht. Der Mann mit der Leiter war verschwunden. Kein Mensch war zu sehen. Schuld an dem ganzen Unglück waren die Züge, die um diese Zeit so selten fuhren, als verwechselten sie Mittag mit Mitternacht. Sie machten die Kinder ungeduldig. Aber nun senkte sich der Nachmittag wie ein leichter Schatten über die Station. 61. Analysieren Sie diese Geschichte nach sprachlichen Gesichtspunkten: • Bestimmen Sie, aus welchen Perspektiven das Geschehen erzä hlt wird. • Erschließen Sie wichtige Motive, die in dieser Geschichte vorkommen. • Eruieren Sie Textpassagen, die auf das kommende Unheil inhaltlich wie sprachlich hinweisen. 62. Setzen Sie sich mit dem Inhalt dieses Textes auseinander: • Geben Sie die äußere Handlung in wenigen Sätzen wieder. • Erschließen Sie das Thema der Kurzgeschichte. • Schlagen Sie eine mögliche Interpretation der Geschichte vor. 63. Beschreiben Sie Ihren persö nlichen Leseeindruck: • Geben Sie wieder, welche Stellen für Sie besonders interessant sind. • Benennen Sie die Aspekte des Textes, die für Sie schwer oder gar nicht verständlich sind. Einen eigenen Stil der kurzen Prosa entwickelte der Schweizer Peter Bichsel (1935 – 2025). Ihm ging es vor allem um die Kommunikationsfähigkeit der Menschen. Bichsels hohes Ansehen in der deutschen Literatur beruht auf einem schmalen Bändchen mit 21 Geschichten: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen (1964). Die eigenwillig erzählten Geschichten haben keine Handlung, sondern geben Zustände wieder. Zwischen den Eheleuten in San Salvador herrscht eine Öde, die der Mann durch seine Phantasien zu überwinden versucht. Die Möglichkeit zu einer Aussprache 155 160 165 170 175 Kurzprosa Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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