Killinger Literaturkunde, Schulbuch

DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 343 Einen eigenen Stil der kurzen Prosa entwickelte der Schweizer Peter Bichsel (geb. 1935). Ihm ging es vor allem um die Kommunikationsfähigkeit der Menschen. Bichsels hohes Ansehen in der deutschen Literatur beruht auf einem schmalen Bändchen mit 21 Geschichten: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen (1964). Die eigenwillig erzählten Geschichten haben keine Handlung, sondern geben Zustände wieder. Zwischen den Eheleuten in San Salvador herrscht eine Öde, die der Mann durch seine Phantasien zu überwinden versucht. Die Möglichkeit zu einer Aussprache und die Änderung ihrer Beziehung sind ihnen nicht gegeben. Die menschlichen Sehnsüchte sind unerfüllbar. Die Sprache redet nicht von der Sprechunfähigkeit der Figuren, sie ist dieser Zustand selbst. Man nennt dieses Verfahren: Thematisieren in Sprache. Peter Bichsel: San Salvador (1963) Er hatte sich eine Füllfeder gekauft. Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige Wellenlinien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: „Mir ist es hier zu kalt“, dann „ich gehe nach Südamerika“, dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie1 garantierte man, dass sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch großzügig seinen Namen Paul darunter. Dann saß er da. Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate, dachte an irgendetwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel mit den Wellenlinien, entleerte seine Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. Die Probe des Kirchenchores dauerte bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab. Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in blauschwarzer Schrift sein Name Paul. „Mir ist es hier zu kalt“, stand auch darauf. Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas müsste ja geschehen sein. Sie würde in den „Löwen“ telefonieren. Der „Löwen“ ist mittwochs geschlossen. Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht. Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem Ringfinger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlangfahren, dann langsam den Mantel aufknöpfen. Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchsanweisung für den Füller noch einmal – leicht nach rechts drehen – las auch den französischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder seinen Zettel, dachte an Palmen, dachte an Hildegard. Saß da. Und um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder?“ Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. 5 1 Papeterie: Papierwarenhandlung (schweiz.) 10 15 20 25 30 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==