DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 345 ihm aufgehoben. Eine Besichtigung brauchtest du nicht. Trotzdem, sagte H. Da fingst du an, die Reise gewissenhaft vorzubereiten. Der visafreie Reiseverkehr war zwar noch nicht eingeführt, aber schon damals wurden die Bestimmungen lax gehandhabt, so daß der nichtssagende Vermerk „Stadtbesichtigung“ , in die dreifach auszufertigenden Antragsformulare unter der Rubrik „Begründung“ eingetragen, anstandslos durchging. Zutreffende Angaben wie „Arbeitsreise“ oder „Gedächtnisüberprüfung“ hätten Befremden erregt. (Besichtigung der sogenannten Vaterstadt!) Die neuen Paßfotos fandet ihr – im Gegensatz zu den Angestellten der Volkspolizeimeldestelle – euch unähnlich, eigentlich abscheulich, weil sie dem Bild, das ihr von euch hattet, um den entscheidenden nächsten Altersschritt voraus waren. Lenka war, wie immer, gut getroffen, nach eurer Meinung. Sie selbst verdrehte die Augen, um sich zu ihren Fotos nicht äußern zu müssen. Während die Anträge auf Ausreise und bei der Industrie- und Handelsbank die Gesuche um Geldumtausch liefen, bestellte Bruder Lutz in der Stadt, die in deinen Formularen zweisprachig, unter verschiedenen Namen auftauchte, als „Geburtsort“ L. und als „Reiseziel“ G., vorsichtshalber telegrafisch Hotelzimmer, denn ihr kennt in deiner Heimat stadt keine Menschenseele, bei der ihr hättet übernachten können. Fristgerecht konntet ihr sowohl die Anlagen zum Personalausweis als auch die dreimal dreihundert Zloty in Empfang nehmen, und du verrietest dich erst am Vorabend des geplanten Reisetages, als Bruder Lutz anrief und mitteilte, er habe es nicht geschafft, seine Papiere abzuholen: Da machte es dir nicht das geringste aus, eine ganze Woche später zu fahren. Es war dann also Sonnabend, der 10. Juli 1971, der heißeste Tag dieses Monats, der seinerseits der heißeste Monat des Jahres war. Lenka, noch nicht fünfzehn und an Auslandsreisen gewöhnt, erklärte auf Befragen höflich, ja, sie sei neugierig, es interessiere sie, doch, ja. H., sowenig ausgeschlafen wie du selbst, setzte sich ans Steuer. An der verabredeten Stelle beim Bahnhof Schönefeld stand Bruder Lutz. Er bekam den Platz neben H., du saßest hinter ihm, Lenkas Kopf auf deinem Schoß, die, eine Gewohnheit aus Kleinkindertagen, bis zur Grenze schlief. 58. Untersuchen Sie diese Textstelle nach inhaltlichen Gesichtspunkten: • Arbeiten Sie heraus, inwiefern diese Fahrt wichtig fur das Selbstverstandnis der Hauptperson ist. • Erlautern Sie, welche Aspekte gegen diese Reise sprechen. • Analysieren Sie, wie der Begriff „Heimat“ thematisiert wird. 59. Untersuchen Sie Aspekte des Lebens in der DDR der fruhen 1970er Jahre, die dieser Text auch zeigt: • Beschreiben Sie, mit welchen Problemen die Reisenden konkret konfrontiert sind. • Erläutern Sie, wie diese Probleme gelost werden. Der DDR-Lyriker und Erzähler Reiner Kunze (geb. 1933) war ursprünglich Mitglied der SED, hatte sich jedoch im Lauf der 1950er Jahre zunehmend davon distanziert, weshalb er ein Ziel der Stasi-Überwachung wurde, die bis 1989 anhielt. Die Veröffentlichung seiner Stasi-Akte zeigte, dass er von einem Freund der Familie regelmäßig überwacht wurde. In seinem Prosaband Die Wunderbaren Jahre (1976) kritisiert er die Lebensumstände von Jugendlichen in der DDR scharf, besonders die Bevormundung durch die Behörden und den Staat. Da sein Text jedoch im Westen ohne Zustimmung der Behörden publiziert wurde, wurde er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und musste schließlich die DDR verlassen. 10 15 20 25 30 35 Kritik an den Lebensumständen in der DDR Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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