DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 349 In der nächsten Generation finden sich einige Autorinnen und Autoren, die zwar auch politisch und kritisch schreiben, aber mit viel Humor und Witz. Einer von ihnen ist Egyd Gstättner (geb. 1962). Kennzeichnend für Gstättner und andere zeitgenössische Autoren und Autorinnen ist die Unklarheit über die Erzählerfigur. Während man in Brandstetters Kurzprosa eine Erzählerfigur erkennt, die sich eindeutig vom Autor unterscheidet, wirken Gstättners Geschichten wie selbst Erlebtes. Die Grenze zwischen fiktionaler Handlung und Erlebnisbericht schwindet. In der kurzen Geschichte Servus in Überösterreich (1994) soll ein Schriftsteller für ein international angesehenes Reisemagazin einen Bericht über Oberösterreich verfassen. Ein Tourismusmanager führt ihn in die Zentren des Fremdenverkehrs. Egyd Gstättner: Servus in Überösterreich (1994) Das innere Salzkammergut zeichnet sich durch Vollbärte und Krachlederhosen aus (Lassen SIE persönlich sich auch einmal einen Vollbart wachsen!) Das durch die Hallstattzeit weit über die Grenzen Hallstatts hinaus bekannte Hallstatt, das zwischen gigantischen Steilwänden und dem gespenstisch dunklen See eingeklemmt ist, erkennt man sofort an seinem Platzmangel. Parade ohne Promenade unmöglich. Völlig autofrei, aber völlig unfreiwillig. Was die Pfahlbauten betrifft, stellen die Hallstätter Hallstatt über Venedig, was die geschichtliche Bedeutung und die Ausgrabungen angeht, über Rom. Wir bleiben fair. In den Schaukästen des prähistorischen Museums die prähistorischen Funde: Aus Leder geflochtene Tragkörbe, Werkzeug, Waffen, Damenschmuck. Eitel waren sie schon auch, die vorzeitlichen Goldhaubentussis, bei allen geologischen Unzukömmlichkeiten. Und Jahreszahlen, Jahreszahlen, Jahreszahlen. Mittelschulnachholungstourismus. Aber man darf das Museum auch ohne Prüfung und Matura wieder verlassen. Das Salzbergwerk ist in der Krise, Meeressalz ist billiger. Seinerzeit hat es Hunderte Kumpel gegeben, nach der nächsten Abbauwelle sollen 35 übrig bleiben, das ist auch für einen Tausendseelenort ein wenig wenig, der Trend geht in Richtung Erlebnisschausalzbergwerk, Touristenstollen und Ausflugseishöhlen. Aber die Saline ist für die Identität Hallstatts unverzichtbar und nicht wegzudenken, sagen die Hallstätter, würde das Salzbergwerk geschlossen, wäre das schon rein multikulturell mindestens genauso schlimm, als würde in Wien das Burgtheater geschlossen, sagen die Hallstätter. Die Hallstätter Hausfrauen plaudern noch ungezwungen von Balkon zu Balkon, das taugt den Ausflugsamis aus den Wolkenkratzern. Bei tausend Seelen kennt freilich jeder jeden. Auch auf dem Kirchfriedhof. Elisabeth Gamsbacher, 1968–1989. Früh verstorben. Die da? Ja, die Sissy. Eine Seele von einem Menschen. Naja, Kopftumor. In der Kirche gibt es drei parallele Altäre, einen für die Kumpel, einen für die Bürger, einen für das Gesindel, das vor ein paar Jahren die wunderschönen Seitenflügel gestohlen hat. Zweckdienliche Hinweise nähme jede Polizeidienststelle entgegen, kommen aber keine. Wie in ganz Hallstatt herrscht auch auf dem Friedhof extreme Raumnot, so gibt es im Friedhof einen konzentrierten Friedhof für Langzeittote. Der Ransmayr Christoph hat den einmal sehr schön im Oberösterreich-Merian beschrieben, realistisch, aber doch irgendwie andächtig. Mit Pietät. (Lesen einmal SIE persönlich Ransmayr Christoph. Hier abermals: Freiwillig. Kultur muss ja nicht immer gleich in Kunst ausarten.) So nach zehn, zwölf Jahren werden die Skelette aus der Erde delogiert und ins sogenannte Beinhaus gebracht, ein Leckerbissen für jeden Totentouristen. Auf einem Knochensockel sind da über tausend Totenschädel gestapelt [...]. Alle fein-säuberlich gebleicht, hübsch rustikal bemalt und am Stirnbein mit Namen, Geburtstag, Todestag und manchmal persönlichen Angaben versehen. Derart dem ewigen Vergessen entrissen, gelangen sie in Photoalben aus Miami und Sapporo, Vancouver, Neufundland, Die andere Heimatdichtung 5 10 15 20 25 30 35 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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