Killinger Literaturkunde, Schulbuch

354 Gernot Wolfgruber: Herrenjahre (1976) Als Melzer nach etlichen Doppelten aufs Klo geht, merkt er, dass er anfängt, richtig betrunken zu werden. Er hat sich im Spiegel über dem Waschbecken angegrinst und sehr gut aussehend gefunden. [...] Er geht zurück ins Extrazimmer, das ihm nur noch als ein nicht mehr zu übersehendes Durcheinander vorkommt. Scheißverwandtschaft, denkt er, obwohl es ihm schon ganz gleichgültig ist, dass er mit allen da verwandt ist. Er will jetzt nur mehr den Tag halbwegs hinter sich bringen, dann ist schon alles in Ordnung. [...] Du hast heute schon ein bissel zu viel, meint Hubert, und wennst so weiter machst, bist in einer Stunde eine Leich. Er glaubt das auch, sagt Onkel Otto, der sich mit einem Glas neben Melzer setzt. Melzer erklärt, dass ein ordentlicher Tischler wie ein fünftüriger Schrank stehe, den könne nichts umhauen, und außerdem sei ihm das auch gleich, heute habe er ja ohnedies nichts mehr Großes vor. Na und die Hochzeitsnacht? grinst Onkel Otto. Die, sagt Melzer und legt seinen Arm um Maria, die haben wir eh schon lang hinter uns. Er hat plötzlich das Gefühl, dass er eigentlich schon alles hinter sich hat, und es geht nur mehr so weiter, wie wenn man, einmal im Laufen, nicht gleich stehen bleiben kann. Er kommt sich vor wie früher am Ende der Ferien, und er schaut zum Fenster, gegen das der Regen schlägt. Das passt ganz genau, denkt er, einen besseren Tag hätt ich mir gar nicht aussuchen können. Was ist denn, fragt Maria, was hast du denn? Was soll ich denn haben?, sagt er. Weilst so dreinschaust, sagt sie. Aber was, sagt Melzer, gar nichts. Er greift nach ihrem Glas, der schönste Tag im Leben ist heute, sagt er, weißt es ja eh. Gegen fünf, außer den Frauen waren alle schon ziemlich betrunken, kam der Wirt und sagte, dass sie jetzt bald Schluss machen müssten, weil um sieben habe der Anhängerklub des Fußballvereins eine Sitzung. Melzer lehnte neben Maria im Sessel und starrte stumpf vor sich hin. Manchmal, wenn er einen Satz aufschnappte, zu dem ihm von selbst etwas einfiel, fing er heftig zu reden an und hörte dann ebenso plötzlich, mitten im Satz, wieder auf. Über eine halbe Stunde hatte er sich vorher draußen auf dem Klo eingesperrt, weil er sich beweisen wollte, dass er niemandem abgeht. Er hatte trotzdem die ganze Zeit, während er auf der Muschel hockte, gehofft, dass man ihn suchen würde, aber als er dann freiwillig ins Extrazimmer zurückgegangen war, hatte man ihn nicht einmal gefragt, wo er so lange gewesen war. Ich hab keine Ahnung, sagt Melzer, was ich mir damals vorgestellt hab, man glaubt halt so allerhand, wenn man noch nicht drin steckt, wennst den Scherm noch nicht auf hast1, man hat ja von nichts eine Ahnung, sagt er, mit dem Alter hat man ja sowieso nur eins im Schädel, am liebsten wär man ein Kuhschweif, der was den ganzen Tag auf der Pritschen liegen kann. Und da stellst dir halt so was vor, so was Klasses wie im Kino, und glaubst, das kannst auch haben, und warum denn eigentlich nicht, ein fescher Zapfen ist man ja und einen guten Schmäh hat man auch, auf was halt die Weiber stehen, und dann probierst eine nach der anderen aus, weil halt keine die Richtige ist, und manchmal glaubst du wirklich, das ist sie jetzt, die große Liebe, wie man da sagt, aber so, wie man sich das vorgestellt hat, ist es halt überhaupt nie. 5 10 15 20 25 Wechsel der Perspektive 30 1 den Scherm aufhaben: Wort aus dem österreichischen Dialekt für Nachttopf, Bedeutung: benachteiligt sein, das Nachsehen haben 35 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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