DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 359 Elfriede Jelinek erhielt 2004 den Nobelpreis für Literatur auf Grund ihrer eingehenden und tiefschürfenden Sprache, was für die literarische Welt eine Sensation war. Die Menschen haben die Buchhandlungen gestürmt, in kürzester Zeit waren alle ihre Titel vergriffen. Die Salzburger Nachrichten schrieben am 8. Oktober 2004: Es ist ein Preis für eine Ikone der Provokation. Personen, die sich mit ihrer Kunst so unbarmherzig zu Wort melden wie Jelinek – und ebenso unbarmherzigen Widerspruch aushalten müssen –, sind selten geworden. Längst lebt auch die Kunstszene in Zeiten fortschreitenden Verfalls hin zu belangloser, leicht verkäuflicher Unterhaltung. Es ist gut, dass es Standhafte gibt, die sich, wie Jelinek, in bedingungsloser Opposition üben. Noch besser ist es, dass das nicht einfach hingenommen oder gar ignoriert wird, sondern sich mit jedem neuen Text Widerstand regt. Dieser Nobelpreis kann verstanden werden als Ansporn zur Verbesserung der Diskussionskultur, bei der es auf beiden Seiten – bei Künstlern und Politikern, denen es um Österreich geht – einen enormen Aufholbedarf gibt. Der Polit-Thriller Opernball (1995) von Josef Haslinger steht ebenfalls in der neorealistischen Tradition. Eine kleine Gruppe von Wirrköpfen, deren Verhalten von einem Gemisch aus Nazi-Ideologie und Sektiererei bestimmt wird, hat Gas in die Belüftungsanlage der Wiener Staatsoper gepumpt. Alle Besucherinnen und Besucher des Nobelballes sterben vor laufenden Kameras. In der Folge recherchiert der Fernsehjournalist Kurt Frazer die Vorgeschichte. Es wechseln drei Erzählstränge, die mehrmals unterbrochen werden: In Form von Tonbandaufzeichnungen liefern ein Mitglied der Neonazigruppe und ein Polizist die Informationen. Dazwischen schaltet sich der Fernsehreporter als Ich-Erzähler mit Reflexionen und Berichten aus seinem Leben. Josef Haslinger: Opernball (1995) Ich saß damals im Regieraum des großen Sendewagens. Vor mir eine Wand von Bildschirmen. Auf Sendung war gerade die an der Bühnendecke angebrachte Kamera. Plötzlich ging ein merkwürdiges Zittern und Rütteln durch die Reihen der Tanzenden. Die Musik wurde kakophonisch, die Instrumente verstummten innerhalb von Sekunden. Ich schaltete auf die Großaufnahme einer Logenkamera und überflog die Monitore. Die Bilder glichen einander. Menschen schwanken, stolpern, taumeln, erbrechen. Reißen sich noch einmal hoch, können das Gleichgewicht nicht halten. Stoßen ein letztes Krächzen aus. Fallen hin wie Mehlsäcke. Einige schreien kurz, andere länger. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie sehen, sie spüren, dass sie ermordet werden. Sie wissen nicht, von wem, sie wissen nicht, warum. Sie können nicht entkommen. Als es geschah, fand ich Fred1 nicht auf den Bildschirmen. Er war der einzige Gedanke, an den ich mich erinnere. Die Aufzeichnung bewies mir jedoch, dass ich routinemäßig noch ein paar andere Kamerapositionen abgerufen hatte, bevor mir die Hände versagten. Millionen von Menschen aus ganz Europa schauten den Besuchern des Wiener Opernballs beim Sterben zu. 5 Politkrimi 5 10 1 Fred: Sohn des Kameramannes, der bei Dreharbeiten im Opernhaus umkommt Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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