360 ist es, dass das nicht einfach hingenommen oder gar ignoriert wird, sondern sich mit jedem neuen Text Widerstand regt. Dieser Nobelpreis kann verstanden werden als Ansporn zur Verbesserung der Diskussionskultur, bei der es auf beiden Seiten – bei Künstlern und Politikern, denen es um Österreich geht – einen enormen Aufholbedarf gibt. Der in Zwettl geborene Schriftsteller Josef Haslinger (*1955) legte 1995 den Polit-Thriller Opernball vor, der ebenfalls in der neorealistischen Tradition steht. Er thematisiert darin die Angst vor dem Terror (u.a. Briefbombenserien), die Ausländerfeindlichkeit, den bedrohten Wohlstand, den Einfluss der Massenmedien auf das Alltagsleben (z.B. Krimis und Soap-Operas) und den Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach mehr Sicherheit und dem Wunsch nach „weniger Staat“. Eine kleine Gruppe von Wirrköpfen, deren Verhalten von einem Gemisch aus Nazi-Ideologie und Sektiererei bestimmt wird, hat Gas in die Belüftungsanlage der Wiener Staatsoper gepumpt. Alle Besucherinnen und Besucher des Nobelballes sterben vor laufenden Kameras. In der Folge recherchiert der Fernsehjournalist Kurt Frazer die Vorgeschichte. Es wechseln drei Erzählstränge, die mehrmals unterbrochen werden: In Form von Tonbandaufzeichnungen liefern ein Mitglied der Neonazigruppe und ein Polizist die Informationen. Dazwischen schaltet sich der Fernsehreporter als Ich-Erzähler mit Reflexionen und Berichten aus seinem Leben. Josef Haslinger: Opernball (1995) Ich saß damals im Regieraum des großen Sendewagens. Vor mir eine Wand von Bildschirmen. Auf Sendung war gerade die an der Bühnendecke angebrachte Kamera. Plötzlich ging ein merkwürdiges Zittern und Rütteln durch die Reihen der Tanzenden. Die Musik wurde kakophonisch, die Instrumente verstummten innerhalb von Sekunden. Ich schaltete auf die Großaufnahme einer Logenkamera und überflog die Monitore. Die Bilder glichen einander. Menschen schwanken, stolpern, taumeln, erbrechen. Reißen sich noch einmal hoch, können das Gleichgewicht nicht halten. Stoßen ein letztes Krächzen aus. Fallen hin wie Mehlsäcke. Einige schreien kurz, andere länger. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie sehen, sie spüren, dass sie ermordet werden. Sie wissen nicht, von wem, sie wissen nicht, warum. Sie können nicht entkommen. Als es geschah, fand ich Fred1 nicht auf den Bildschirmen. Er war der einzige Gedanke, an den ich mich erinnere. Die Aufzeichnung bewies mir jedoch, dass ich routinemäßig noch ein paar andere Kamerapositionen abgerufen hatte, bevor mir die Hände versagten. Millionen von Menschen aus ganz Europa schauten den Besuchern des Wiener Opernballs beim Sterben zu. Der „Ingenieur“, ein Mitglied der Neonazigruppe, spricht über seinen „Führer“, den „Geringsten“, der Adolf Hitler nachgebildet ist: Der Geringste, wiewohl er uns jede Bemerkung, die ihn über andere gestellt hätte, strikt verbat, war kein Gewöhnlicher. Gerade weil wir das nicht sagen durften, war es umso augenscheinlicher. Er war anwesend wie niemand sonst. Man spürte ihn, wenn er eintrat, auch wenn man nicht hinsah. Wenn er zu reden anfing, verstummten alle. Niemand hat ihn zum Führer gemacht. Er war es einfach. Auf ihn haben alle gehört. Oft brauchte er nicht einmal etwas zu sagen. Man hat ihm in die Augen gesehen und verstanden, was er Politkrimi 5 10 1 Fred: Sohn des Kameramannes, der bei Dreharbeiten im Opernhaus umkommt 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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