362 Der Umgang mit der Wirklichkeit und deren Fiktionalisierung ist ein Thema, das viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller sehr stark beschäftigt. Daniel Kehlmann (geb. 1975) schreibt dazu: Ein Erzähler operiert mit Wirklichkeiten. Aus dem Wunsch heraus, die vorhandene nach seiner Vorstellung zu korrigieren, erfindet er eine zweite, private, die in einigen offensichtlichen Punkten und vielen gut versteckten von jener ersten abweicht. In seinem Roman Die Vermessung der Welt (2005) erzeugt Kehlmann ein Bild des späteren Wissenschaftlers Alexander von Humboldt: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt (2005) Humboldt durchlief das Kurrikulum der Akademie in einem Vierteljahr. Morgens war er sechs Stunden unter der Erde, nachmittags hörte er Vorlesungen, am Abend und die Hälfte der Nacht lernte er für den nächsten Tag. Freunde hatte er keine, und als sein Bruder ihn zu seiner Hochzeit einlud – er habe eine Frau gefunden, wie sie ihm gezieme, eine, die nicht ihresgleichen habe auf der Welt –, antwortete er höflich, daß er nicht kommen könne, ihm fehle Zeit. Er kroch durch die niedrigsten Schächte, bis er sich an seine Platzangst gewöhnt hatte wie an einen nicht nachlassenden, allmählich jedoch erträglichen Schmerz. Er stellte Temperaturmessungen an: Je tiefer man hinabstieg, desto wärmer wurde es, und das widersprach allen Lehren Abraham Werners. Ihm fiel auf, daß es noch in der tiefsten Höhlendunkelheit Vegetation gab. Das Leben schien nirgendwo aufzuhören, überall fand sich noch eine Form von Moos und Wucherung, irgendeine Art verkümmerter Gewächse. Sie waren ihm unheimlich, und darum zerlegte und untersuchte er sie, ordnete sie nach Klassen und schrieb eine Abhandlung darüber. Jahre später, als er ähnliche Pflanzen in der Höhle der Toten sah, war er vorbereitet. Er machte den Abschluß und bekam eine Uniform. Wo immer er auch hinkam, sollte er sie tragen. 83. Untersuchen Sie die Darstellung des jungen Humboldt, einer der Hauptfiguren in Kehlmanns Roman: • Erlä utern Sie, welche Charaktereigenschaften hervortreten. • Erklären Sie die Technik, die der Autor hier einsetzt. (Siehe Charakterisierung S. 451) • Erschließen Sie, welche Mö glichkeiten diese Darstellungsweise dem Autor bietet. • Analysieren Sie die Satzstrukturen, die hier verwendet werden. POSTMODERNE ERZÄHLERINNEN UND ERZÄHLER Der postmoderne Roman ist durch eine Reihe von Kriterien gekennzeichnet, allerdings gibt es keine durchgehende Definition des Begriffes. Häufige Merkmale sind: • fragmentarische oder unchronologische Erzählweise • Geschehen muss bisweilen von der Leserin bzw. vom Leser rekonstruiert werden • Die Möglichkeit einer Entwicklung der Protagonistinnen und Protagonisten wird geleugnet. • Fehlen von Identifikationsfiguren • D er postmoderne Roman ist geprägt von einer unverbindlichen Weltsicht und einem nicht erkennbaren Sinn des Daseins. Magischer Realismus 5 10 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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