Killinger Literaturkunde, Schülerband

DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 365 Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) Mazzini, ein zweiunddreißigjähriger Wanderer, ging im arktischen Winter des Jahres 1981 in den Gletscherlandschaften Spitzbergens verloren. Es war ein privater Trauerfall, gewiß. Ein Verschollener, einer mehr, nichts Besonderes. Aber wenn einer verlorengeht, ohne einen greifbaren Rest zu hinterlassen, etwas, das man verbrennen, versenken oder verscharren kann, dann muß er wohl erst in den Geschichten, die man sich nach seinem Verschwinden über ihn zu erzählen beginnt, allmählich und endgültig aus der Welt geschafft werden. Fortgelebt hat in solchen Erzählungen noch keiner. Mir war die Tatsache oft unheimlich, daß sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschichte, die man nur lange genug verfolgt, irgendwann in der Weitläufigkeit der Zeit verliert – aber weil nie alles gesagt werden kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahrhundert genügen muß, um ein Schicksal zu erklären, beginne ich am Meer und sage: Es war ein heller, windiger Märztag des Jahres 1872 an der adriatischen Küste. Vielleicht standen auch damals die Möwen wie filigrane Papierdrachen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Himmels glitten die weißen Fetzen einer in den Turbulenzen der Jahreszeit zerrissenen Wolkenfront – ich weiß es nicht. Überliefert ist aber, daß an diesem Tag Carl Weyprecht, ein Linienschiffslieutenant der k. u. k. österreichisch-ungarischen Marine, vor dem Hafenamt jener Stadt, die von den Italienern Fiume und von ihren kroatischen Bewohnern Rijeka genannt wird, eine Rede hielt. Er sprach vor Seeleuten und gemischtem Hafenpublikum über die Drohungen des höchsten Nordens. 85. Untersuchen Sie die postmodernen Merkmale dieser Stelle: • Beschreiben Sie, wie die beiden Erzählstränge in diesem Abschnitt miteinander verbunden werden. • Erschließen Sie, welche Problematik des Erzählens in diesem Text thematisiert wird. Birgit Pölzl (geb. 1959) studierte in Graz Germanistik und Kunstgeschichte und arbeitet als Ressortleiterin für Literatur im Kulturzentrum Graz. 1998 erschien die Erzählung Leichtigkeit in den Nischen, 2003 der Roman Zugleich. Die Hauptfigur des Romans, Christine, erkrankt an einem Gehirntumor. Nach erfolglosen Verdrängungsversuchen stellt sie sich der Krankheit, wenn auch in eigenwilliger Weise: Sie will das Wachstum der Tumorzellen stoppen, indem sie sich auf die Suche nach der Lösung eines Paradoxons begibt: Begehren ohne Begehren. Formal wird die Handlung von zwei Erzählerinnen parallel geschildert. So entsteht eine Außensicht und eine Innensicht der Hauptfigur. Die beiden Erzählerinnen wechseln sich ständig ab und entwickeln einen Konkurrenzkampf, der am Ende zur Trennung der zwei Erzählstränge führt. Jede der Erzählerinnen beendet schließlich ihre Version des Geschehens auf eigene Weise. Birgit Pölzl: Zugleich (2003) Endlich kann ich den Gedanken, die Tabletten, nimm die Tabletten, fassen. Beim Schlucken wieder der Nelkengeruch, aber die Schmerzen werden bald vergehen, die Schmerzen werden gleich vergangen sein. Ich kleckere ja nicht, ich nehme gleich ordentlich. Ich lege mich wieder hin und warte, bis die Tabletten die Schmerzen vertreiben, bis eine große Dumpfheit in mich tritt, um das Andenken an die Schmerzen zu halten. Jetzt stehe ich auf und schenk mir Wein ein in ein Glas, das ich mit beiden Händen halt und rieche: Wein. Nachtdunkel riecht er, herb riecht er, Rotwein, der wie Rotwein riecht. 5 10 15 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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