DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 367 auf der Welt bin, hatte ich gesagt. Das ist der Dank, schluchzte sie und holte aus zum letzten erfolglosen Versuch, Dankbarkeit und Lebenslust in mich hineinzuprügeln. Sonst waren die Konflikte seltener geworden. Meine Hausübungshefte brauchten nicht mehr kontrolliert zu werden, die Hefte waren sauber, tadellos und außerdem kamen meine Eltern sowieso im Lehrstoff nicht mehr mit. Sie hätten mir gar nicht helfen können, und für Nachhilfestunden wäre kein Geld dagewesen. Entweder du lernst, oder wir nehmen dich aus der Schule. Mit vierzehn gehen andere Kinder in die Lehre. Ich wußte, eigentlich gehörte ich zu den anderen Kindern, die mit vierzehn schon mitverdienen halfen. Ich war privilegiert. Nur wenige Eltern erlaubten ihren Kindern, ihnen bis achtzehn noch auf der Tasche zu liegen und zu studieren. Noch dazu war ich ein Mädchen. Ich mußte mich des Privilegs würdig erweisen, außerdem mußte ich es ihnen ja zeigen, allen, die überzeugt waren, ich würde es nicht schaffen, alle, die sagten, Arbeiterkinder werden nicht maturareif, es fehlt die kulturelle Atmosphäre des Elternhauses. Die Ausgaben wurden mir vorgerechnet, ich verging fast vor Schuld und Nicht-genug-dankbar-sein-können. Achtzig Schilling Schulgeld im Monat waren viel Geld bei einem Monatslohn von weniger als zweitausend Schilling, Kleider aus den teuersten Stoffen, Landschulwochen, bei denen ich aus Angst vor den schwarzen Bergen vor dem Fenster und vor Heimweh kein Auge zutat, Schikurse, eine komplette, neue Schiausrüstung. Die Ausgaben wuchsen zu gigantischen Zahlen, beim Nennen vierstelliger Zahlen senkte sich eine Wand des Entsetzens vor meine Vorstellungskraft und guillotinierte meine Denkfähigkeit. Dreistellige Zahlen bedeuteten Reichtum, vierstellige drohenden Ruin. Meine Noten in Mathematik besserten sich erst bei den imaginären Zahlen, bei Integral und Differential, die keinen Bezug zur Wirklichkeit mehr forderten. Erst dann fühlte ich mich sicher vor der Verantwortung, mit Zahlen zu hantieren. Die Schiausrüstung war wie alles andere auch vom Mund abgespart, die Schischuhe mit Innenschuhen, die Schi mit Plastikbelag, die Sicherheitsbindung, Pullover, Mütze und Schal waren selbstgestrickt, aus der besten Wolle natürlich, aber der Anorak und die Lastexhose wurden im teuersten Sportgeschäft gekauft. Dazu kam noch eine Reisetasche voll Verpflegung, Rollschinken, Salami, Graubrot, lauter Sachen, die es zu Hause nie gab. Ich lag im Stockbett und aß und aß und wog schon neunundsechzig Kilo. Der Fettfleck frißt schon wieder, spotteten die Mitschülerinnen, aber man konnte doch die teure Salami nicht verkommen lassen. Die hartgekochten Eier begannen schon zu stinken, pfui Teufel, schmeiß sie doch weg! Eine Gottesgabe schmeißt man nicht weg, Essen ist eine Gottesgabe. Auf dem Schihang stand ich in hilfloser Panik mit den teuren Schiern an den Füßen, helft mir doch, rief ich verzweifelt, helft mir, ich laß’ euch ja auch immer die Aufgaben abschreiben, aber die anderen waren schon hinunter, ich schloß die Augen und schoß den Berg hinunter in den Tiefschnee hinein. Ich haßte die teuren Schi, die Sicherheitsbindung ging beim Sturz nicht auf. Aber ich kam heim mit sonnenverbranntem Gesicht und sagte, schön war’s, und die Eltern freuten sich über das Opfer, das sich gelohnt hatte. Was das Kind alles erleben darf, wovon man selbst nie geträumt hätte. 78. Erörtern Sie das schwierige Verhaltnis von Mutter und Tochter und seine sprachliche Umsetzung in diesem Textabschnitt: • Fassen Sie die Wunsche der Mutter zusammen. • Geben Sie die Ziele und Bedurfnisse der Tochter wieder. • Beurteilen Sie, inwiefern es beiden gelingt, ihre jeweiligen Anliegen umzusetzen. • Untersuchen Sie die Funktion der sprachlichen Phrasen für die Darstellung der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. 40 45 50 55 60 65 70 75 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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