Killinger Literaturkunde, Schulbuch

370 Der Realität wird die mediale Vermittlung durch die Medien gegenübergestellt, deren Hauptziel die Quotensteigerung zu sein scheint. Thomas Glavinic: Der Kameramörder (2001) Ich schlug eine Zeitung auf. Ein großes Foto zeigte einen Jungen, der mit ausgestrecktem Arm auf einen hohen Punkt in einem Baum wies. Von diesem Punkt war ein schwarzer Pfeil abwärts gezeichnet, der den Absprungsort, die Flugbahn und den Ort des Aufpralls des Opfers kennzeichnete. Meine Lebensgefährtin, die sich zunächst abgewandt hatte, beugte sich zu mir und fragte, ob das das überlebende Kind sei. Ich verneinte, es handle sich um ein gestelltes Foto, der Baum sei richtig, nur das Kind sei falsch. Der Bauer sagte, unglaublich, dieser Baum, er kenne den Wald, es sei dort gut, Schwämme zu suchen, und er sei mehrfach dort gewesen. Er habe jedoch keine Ahnung gehabt, daß dort eines Tages etwas so Furchtbares geschehen würde, wie hätte er das wissen sollen. Unbedingt, unter allen Umständen müsse der Täter gefunden und mit ihm kurzer Prozeß gemacht werden. Mit diesen Worten drehte er sich um und schlenderte zurück zu seinem Haus. Heinrich nahm endlich am Tisch Platz. Hastig schenkte er sich Kaffee ein. Er biß in eine trockene Semmel und vertiefte sich in eine Zeitung. Eva fragte, ob er sich nicht wenigstens Butter hineinschmieren wolle. Heinrich grunzte nur, machte Hm und blieb völlig unansprechbar. Sie sagte, er möge sich bremsen. Er solle nicht vergessen, daß ihre Gäste nicht nur zum Fernsehen und Zeitunglesen die weite Reise in die Steiermark gemacht hätten. Dieser Tag gehöre der Entspannung und der freundschaftlichen Unterhaltung, Zeitung weglegen. Heinrich lachte und tat, wie ihm geheißen. Er sagte jedoch, er könne sich nicht ganz von der Tragödie lösen. Tagsüber müsse er sich über die Geschehnisse wenigstens auf dem Laufenden halten, sonst würde seine Neugier ihn ersticken. Dies wurde ihm von Eva und meiner Lebensgefährtin unter Augenrollen gestattet. Er sprang auf und stürzte ins Haus. So sei das nicht gemeint gewesen, rief Eva ihm hinterher. Er war verschwunden. Ich schützte vor, zur Toilette zu müssen, und begab mich ebenfalls ins Haus, von kritisierenden Rufen der Frauen verfolgt. Heinrich saß mit einer aufgeschlagenen Zeitung auf den Knien vor dem Fernseher und studierte die Teletext nachrichten. Mit verschwörerischer Stimme sagte er, er kenne einen Gendarmen, der seinen Dienst in Frauenkirchen versehe. Er habe große Lust, ihn anzurufen oder gar zu besuchen. Evtl. sei so an Informationen zu kommen, die nicht in der Zeitung oder im Fernsehen veröffentlicht würden. Ich erinnerte ihn daran, eine solche Vorgehensweise hätte unweigerlich Proteste beim weiblichen Teil unserer Gruppe zur Folge. Heinrich wiegte den Kopf. Man müsse den Frauen einen Grund geben, sich ebenfalls für den Fortgang des Falles zu interessieren. Auf meine Frage, welcher Natur dieser Grund sein könne, antwortete er, Angst. Gleich grinste er, dies sei zwar verwerflich, doch wir könnten wenigstens eine gewisse Unruhe säen. Etwa indem wir von Gerüchten berichteten, der Täter sei in der Nähe unterwegs. Ich solle mich nur des Theaters von vergangener Nacht entsinnen. Nein, fügte er hinzu, es sei wirklich nicht erforderlich, unsere Frauen in Furcht zu versetzen. Wenn wir geschickt agierten, könnten wir sie durch Mutmaßungen dazu bringen, uns zumindest nicht allzusehr in unserem Forschungsdrang einzuschränken. Wir wandten uns wieder dem Teletext bzw. der Zeitung zu. In der Druckschrift wurde der Täter als Kamerateufel bezeichnet, der entmenscht u. bestialisch u. ein Verbrecher von einem anderen Stern sei. Jeder Kolumnist u. jeder Kommentator beschäftigte sich mit der Tat. Sogar ein Foto der Opfermutter war abgedruckt. Aus dem Teletext erfuhren wir, daß das Foto als Realität versus Darstellung in den Medien 5 10 15 20 25 30 35 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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