Killinger Literaturkunde, Schulbuch

372 Paulus Hochgatterer: Über Raben (2002) Manchmal fragte er sich, ob in den allerletzten Augenblicken sein Leben tatsächlich vor ihm ablaufen würde wie ein innerer Film. Wenn er an zwei Fingern über einem Abgrund hing, fragte er sich das, oder wenn ihm im Stürzen klar wurde, dass der Haken, der ihn halten sollte, von einer fremden Person geschlagen worden war. Wenn er einen dieser glasklaren Kindersätze las: «Das Leben war wieder einmal schwer» zum Beispiel oder: «Er lachte, bis ihm das Herz wehtat», fragte er sich das, und er tat es bei weitem öfter als früher, seitdem Max nicht mehr da war. Widmann, der Biologe, sagte, tot sei tot, das hänge mit einem Kollaps aller Nervenzellen zusammen und ein Kino im Kopf sei ein aufgelegter Schwachsinn. Inzwischen gehörte Widmann längst zu jenen, die hinter ihm her waren. Widmanns Nervenzellen wussten unter Garantie, dass sie zu kollabieren hatten, wenn es so weit war. Für einen Moment überlegte er, das Auto zu verstecken, hielt dann aber doch auf dem üblichen Parkplatz, einer seichten, vielleicht zwanzig Meter langen Bucht im Hang, an. Kein anderes Fahrzeug stand da. Er stieg aus und sah sich um. Über den Bäumen am Fuß der Felswände lag eine Nebelbank. Sie hatte die Form eines flachen Tellers. Der Schnee war an der Oberfläche gefroren und brach bei jedem seiner Schritte mit einem leisen Krachen ein. Das Außenthermometer des Volvo hatte zuletzt minus elf Grad angezeigt. Oben würde es wärmer sein. Bei Schönwetter herrschte in diesem Abschnitt des Tales immer eine Inversionslage. 87. Beschreiben Sie, in welcher Gemütslage sich der Lehrer in dieser Passage befindet. Es gibt viele Rätsel auf dieser Welt. Zum Beispiel wie ich es schaffe, täglich um drei Minuten vor acht da zu sein. Vielleicht hat es mit einer genetisch fixierten inneren Uhr zu tun. Wenn man Leute wochenlang in finstere Räume sperrt, stellt sich ihre innere Uhr angeblich auf eine Tageslänge von 25 Stunden ein. Ich halte das für einen Blödsinn, aber wer kann das schon überprüfen, wo doch heute nicht einmal mehr in Gefängnissen Leute in dunkle Räume gesperrt werden. Weibl steht an der Tür und glotzt. Das hat auch mit genetischer Fixierung zu tun. Er hat eine Hornhautverkrümmung und sieht mit seinen dicken Brillengläsern dauerglotzig aus. Im Vorbeigehen schiebe ich mein Gesicht bis auf zehn Zentimeter an seine Brillengläser heran. „Du Eierdieb“, sage ich, „du ziehst mich runter.“ Er zeigt mir den Mittelfinger. „Er hat den richtigen gefunden“, sage ich zu Susanne. „Wer hat was gefunden?“, fragt sie. „Weibl hat den richtigen Finger gefunden“, sage ich. „Wofür“, fragt sie, „wofür hat er den richtigen Finger gefunden?“ – „Vergiss es“, sage ich. Susanne trägt eine beige Bluse mit zu großem Kragen und Jeans, die ihren Hintern aussehen lassen, als käme er frisch aus der Schrottpresse, schön viereckig und zugleich doch ein wenig verzogen. Außerdem hat sie seit sechs Tagen ein Piercing im linken Nasenflügel, das ich seit sechs Tagen konsequent ignoriere. Da sie rechts von mir sitzt und ich den Goldknubbel im Gesichtsfeld habe, sobald ich mich ein paar Grad hinüberdrehe, erfordert das einige Mühe, zugegeben. In letzter Zeit ist mir überhaupt nicht danach, Nasenflügelpiercings zu loben. Es läutet und Petrau kommt nicht. Es ist jede Woche dasselbe, und es ärgert mich jede Woche gleich. Herumstehende Filmmülltonnen ärgern mich und Musikprofessoren, die blind jeden Ton erkennen, den du am Klavier anschlägst, aber die Schulglocke nicht hören, ärgern mich auch. Dann jeiert er wieder dahin, wie belastend es nicht sein kann, das absolute Gehör zu besitzen und durch lächerliche Frequenzunterschiede geradezu kör5 10 15 20 25 30 35 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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