Killinger Literaturkunde, Schulbuch

DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 373 perlich gequält zu werden. „Wir singen ihm was vor“, sagt Gert manchmal, „ein Drittel singt ein C, ein Drittel ein Cis und der Rest den Ton dazwischen.“ Wir haben es noch nie wirklich ausprobiert, obwohl ich die Idee im Prinzip für realisierungswürdig halte. Wobei das die erste und letzte und einzige Idee ist, die ich von diesem Herrn jemals für realisierungswürdig halten werde. Und außerdem ist die Genauigkeit mit C und Cis und dem Ton dazwischen völlig überflüssig; wir brauchen nur irgendwelche Töne zu singen, ad libitum, oder wie das heißt, und Petrau wird leiden. Ich beuge mich schräg nach links hinten zu Simone. „Wie stirbt ein Postamtsleiter?“, frage ich. Sie schweigt und denkt nach. Simone ist ein besonnener Mensch, der immer erst nachdenkt, bevor er irgendwas antwortet. „Postamtsleiter“, fragt sie dann, „heißt das nicht Postmeister?“ 88. Analysieren Sie diesen Text nach inhaltlichen Gesichtspunkten: • Beschreiben Sie, wie sich dieses Madchen fuhlt und wie es der Schule gegenubersteht. • Erläutern Sie, welche dieser Gedanken und Empfindungen typisch fur Jugendliche dieser Altersgruppe sind. 89. Erörtern Sie die Erzahlweise der beiden Abschnitte: • Sammeln Sie Textzitate für die unterschiedlichen Erzählpositionen. • Kommentieren Sie, in welcher Weise die unterschiedliche Erzählposition die Wirkung der Texte beeinflusst. • Stellen Sie Vermutungen an, aus welchen Gründen sich der Autor dazu entschlossen haben könnte, diese Technik in diesem Roman zu verwenden. Die in Salzburg geborene Kathrin Röggla (geb. 1971) schildert in ihrem Text wir schlafen nicht (2004) die Orientierungslosigkeit einer Generation, die sich in der Arbeitswelt gefangen sieht und die nicht aus den auferlegten Zwängen auszubrechen in der Lage ist. Die Tatsache, dass die Personen ihres Textes nicht mehr schlafen, steht stellvertretend für wichtige menschliche Bedürfnisse, die zugunsten von Karriere und Erfolg in den Hintergrund gedrängt werden, denen alles unterzuordnen ist. Die Arbeitswelt wird zur Bedrohung derer, die vermeintlich die Welt gestalten, dabei aber ihre Identität im Umgang mit der Droge Arbeit verloren haben. In diesen Zitaten aus Interviews mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen an einer Messe dreht sich alles um die Wirkung nach außen und gleichzeitig um die Sprachlosigkeit in einer Zeit der omnipräsenten Kommunikation. In einem Interview mit Kristina Werndl beschreibt Katrin Röggla die wesentlichen Aspekte ihrer Arbeit: mich interessieren gesellschaftliche knoten. mischverhältnisse. zusammenhänge. widersprüche. das sind politische fragestellungen, aber, wie gesagt, literatur kann nicht per se politisch oder nicht politisch sein, auch wenn sie in bestimmten historischen situationen politische reaktionen auslösen konnte. kunst scheint mir die aufgabe zu haben, wenn sie überhaupt aufgaben hat, ambivalenzen, widersprüche herauszuarbeiten. und außerdem bin ich beim schreiben zu einem großen teil auch mit mir selbst beschäftigt, also was machen bestimmte diskurse, rhetoriken, sprech- und kräfteverhältnisse mit mir. also die frage nach emotionalen und psychologischen interferenzen, die diese widersprüche und machtverhältnisse auslösen, auch wenn sich das bei meinem schreiben mehr auf der ebene der geste, des ausdrucks äußert. 45 50 In der Arbeitswelt gefangen 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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