Killinger Literaturkunde, Schülerband

DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 373 Für einen Moment überlegte er, das Auto zu verstecken, hielt dann aber doch auf dem üblichen Parkplatz, einer seichten, vielleicht zwanzig Meter langen Bucht im Hang, an. Kein anderes Fahrzeug stand da. Er stieg aus und sah sich um. Über den Bäumen am Fuß der Felswände lag eine Nebelbank. Sie hatte die Form eines flachen Tellers. Der Schnee war an der Oberfläche gefroren und brach bei jedem seiner Schritte mit einem leisen Krachen ein. Das Außenthermometer des Volvo hatte zuletzt minus elf Grad angezeigt. Oben würde es wärmer sein. Bei Schönwetter herrschte in diesem Abschnitt des Tales immer eine Inversionslage. 96. Beschreiben Sie, in welcher Gemütslage sich der Lehrer in dieser Passage befindet. Es gibt viele Rätsel auf dieser Welt. Zum Beispiel wie ich es schaffe, täglich um drei Minuten vor acht da zu sein. Vielleicht hat es mit einer genetisch fixierten inneren Uhr zu tun. Wenn man Leute wochenlang in finstere Räume sperrt, stellt sich ihre innere Uhr angeblich auf eine Tageslänge von 25 Stunden ein. Ich halte das für einen Blödsinn, aber wer kann das schon überprüfen, wo doch heute nicht einmal mehr in Gefängnissen Leute in dunkle Räume gesperrt werden. Weibl steht an der Tür und glotzt. Das hat auch mit genetischer Fixierung zu tun. Er hat eine Hornhautverkrümmung und sieht mit seinen dicken Brillengläsern dauerglotzig aus. Im Vorbeigehen schiebe ich mein Gesicht bis auf zehn Zentimeter an seine Brillengläser heran. „Du Eierdieb“, sage ich, „du ziehst mich runter.“ Er zeigt mir den Mittelfinger. „Er hat den richtigen gefunden“, sage ich zu Susanne. „Wer hat was gefunden?“, fragt sie. „Weibl hat den richtigen Finger gefunden“, sage ich. „Wofür“, fragt sie, „wofür hat er den richtigen Finger gefunden?“ – „Vergiss es“, sage ich. Susanne trägt eine beige Bluse mit zu großem Kragen und Jeans, die ihren Hintern aussehen lassen, als käme er frisch aus der Schrottpresse, schön viereckig und zugleich doch ein wenig verzogen. Außerdem hat sie seit sechs Tagen ein Piercing im linken Nasenflügel, das ich seit sechs Tagen konsequent ignoriere. Da sie rechts von mir sitzt und ich den Goldknubbel im Gesichtsfeld habe, sobald ich mich ein paar Grad hinüberdrehe, erfordert das einige Mühe, zugegeben. In letzter Zeit ist mir überhaupt nicht danach, Nasenflügelpiercings zu loben. Es läutet und Petrau kommt nicht. Es ist jede Woche dasselbe, und es ärgert mich jede Woche gleich. Herumstehende Filmmülltonnen ärgern mich und Musikprofessoren, die blind jeden Ton erkennen, den du am Klavier anschlägst, aber die Schulglocke nicht hören, ärgern mich auch. Dann jeiert er wieder dahin, wie belastend es nicht sein kann, das absolute Gehör zu besitzen und durch lächerliche Frequenzunterschiede geradezu körperlich gequält zu werden. „Wir singen ihm was vor“, sagt Gert manchmal, „ein Drittel singt ein C, ein Drittel ein Cis und der Rest den Ton dazwischen.“ Wir haben es noch nie wirklich ausprobiert, obwohl ich die Idee im Prinzip für realisierungswürdig halte. Wobei das die erste und letzte und einzige Idee ist, die ich von diesem Herrn jemals für realisierungswürdig halten werde. Und außerdem ist die Genauigkeit mit C und Cis und dem Ton dazwischen völlig überflüssig; wir brauchen nur irgendwelche Töne zu singen, ad libitum, oder wie das heißt, und Petrau wird leiden. Ich beuge mich schräg nach links hinten zu Simone. „Wie stirbt ein Postamtsleiter?“, frage ich. Sie schweigt und denkt nach. Simone ist ein besonnener Mensch, der immer erst nachdenkt, bevor er irgendwas antwortet. „Postamtsleiter“, fragt sie dann, „heißt das nicht Postmeister?“ 15 20 25 30 35 40 45 50 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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