DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 379 Der Roman Die Bagage behandelt die Geschichte der Großmutter der Erzählerin namens Maria Moosbrugger, die als eine der schönsten Frauen im Ort gilt und mit ihrem Mann Josef und den Kindern in sehr prekären Verhältnissen lebt. Sie und ihre Familie werden von den Ortsbewohnerinnen und Ortsbewohnern ihrer Armut wegen als Bagage bezeichnet. Als der Vater zum Kriegsdienst eingezogen wird, bleibt Maria mittellos auf sich allein gestellt und muss mit den Avancen und Anfeindungen der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern zurande kommen. Diese Herkunft ist für Monika Helfer besonders deshalb wichtig, da sich damit verschiedene Verhaltensweisen und Traumata erklären lassen, die in der Familie über die Generationen hinweg wirksam zutage getreten sind. Im folgenden Abschnitt wird erzählt, wie Großvater Josef zur Mutter der Erzählerin steht und wie die Geschehnisse ihren Lauf nehmen. Monika Helfer: Die Bagage (2020) […] Das Mädchen war meine Mutter, Margarete, eine Scheue, die jedes Mal, wenn sie auf ihren Vater traf, sich duckte und nach dem Rock der Mutter schaute. Der Vater war liebevoll zu den andern vier Kindern, im Großen und Ganzen war er liebevoll, und er würde es auch zu den zwei später geborenen sein. Nur dieses Mädchen verabscheute er, die Margarete, die meine Mutter werden wird, weil er dachte, dass sie nicht sein Kind sei. Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht. Er habe bis zu seinem Tod nie ein Wort mit ihr gesprochen. Und es sei ihr nicht bewusst, dass er sie jemals angeschaut hätte. Das hat mir meine Mutter erzählt, da war ich erst acht. Mein Großvater wollte mit der Scheuen nichts zu tun haben. Für meine Großmutter war das der Grund, die Scheue mehr als die anderen Kinder zu herzen und auch mehr als die anderen zu mögen. Maria hieß meine schöne Großmutter, der alle Männer nachgestiegen wären, wenn nicht alle Männer Angst vor ihrem Mann gehabt hätten. Aber ich greife vor. Diese Geschichte beginnt nämlich, als meine Mutter noch nicht geboren war. Die Geschichte beginnt, als sie noch gar nicht gezeugt war. Sie beginnt an einem Nachmittag, als Maria wieder einmal die Wäsche an die Leine klammerte. Es war im frühen September 1914. Da sah sie den Postboten unten am Weg. Sie sah ihn schon von Weitem. […] 96. Erschließen Sie die Erzählweise dieses Textausschnittes: • Analysieren Sie die Funktionen des Konjunktivs. • Bestimmen Sie die nachgestellten Erläuterungen und erschließen Sie ihre Rolle für das Erzählen. • Untersuchen Sie die Wirkung des letzten Absatzes, insbesondere des Einstiegssatzes: „Aber ich greife vor.” In ihrem Roman Vati (2021) porträtiert Monika Helfer die Figur des Vaters, die ihrem eigenen Vater nachempfunden ist, jedoch als Romanfigur fiktionalisiert wird. Sie behandelt nicht nur die Vaterfigur, sondern auch das Aufwachsen der Kinder in dieser besonderen Umgebung. Mit diesem Text verarbeitet Monika Helfer einen besonderen Abschnitt ihrer Familiengeschichte. Der Vater ist Witwer, Verwalter eines Kriegsversehrtenheimes, selbst Invalide und Literaturliebhaber, der Bücher über alles schätzt. Im folgenden Abschnitt wird er von der Erzählerin charakterisiert. 5 10 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==