DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 379 104. Untersuchen Sie die Wirkung, die diese moderne Variante des Briefromans erzeugt: • Erläutern Sie, welche Stellen auf Sie besonders unterhaltsam bzw. lustig wirken. • Analysieren Sie, wie dieser Effekt erreicht wird. Autofiktion Texte, die nur vermeintlich bzw. nur zum Teil autobiographisch sind, bezeichnet man als autofiktionale Texte. Durch Namensgleichheit mit der Verfasserin, dem Verfasser und durch Details aus deren Leben wirkt ein solcher Text autobiographisch, der Erzähler, die Erzählerin scheint mit dem Autor, der Autorin identisch zu sein. So werden vermeintliche beispielsweise reale biographische Details abgeändert, um den Erzählfluss und die Struktur des Textes bewusst zu gestalten. Die Schriftstellerin Monika Helfer (geb. 1947 in Au/Bregenzerwald) erzählt in ihren zum großen Teil autobiographisch geprägten Romanen Die Bagage (2020), Vati (2021) und Löwenherz (2022) die Geschichte ihrer Familie und deren wechselvolles Leben nach. Sie folgt damit tatsächlichen Ereignissen, reichert aber die Handlung auch durch fiktionale Elemente an, um die Handlung plausibler und die Geschichten erzählenswerter zu machen. Der Roman Die Bagage behandelt die Geschichte der Großmutter der Erzählerin namens Maria Moosbrugger, die als eine der schönsten Frauen im Ort gilt und mit ihrem Mann Josef und den Kindern in sehr prekären Verhältnissen lebt. Sie und ihre Familie werden von den Ortsbewohnerinnen und Ortsbewohnern ihrer Armut wegen als Bagage bezeichnet. Als der Vater zum Kriegsdienst eingezogen wird, bleibt Maria mittellos auf sich allein gestellt und muss mit den Avancen und Anfeindungen der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern zurande kommen. Diese Herkunft ist für Monika Helfer besonders deshalb wichtig, da sich damit verschiedene Verhaltensweisen und Traumata erklären lassen, die in der Familie über die Generationen hinweg wirksam zutage getreten sind. Im folgenden Abschnitt wird erzählt, wie Großvater Josef zur Mutter der Erzählerin steht und wie die Geschehnisse ihren Lauf nehmen. Monika Helfer: Die Bagage (2020) […] Das Mädchen war meine Mutter, Margarete, eine Scheue, die jedes Mal, wenn sie auf ihren Vater traf, sich duckte und nach dem Rock der Mutter schaute. Der Vater war liebevoll zu den andern vier Kindern, im Großen und Ganzen war er liebevoll, und er würde es auch zu den zwei später geborenen sein. Nur dieses Mädchen verabscheute er, die Margarete, die meine Mutter werden wird, weil er dachte, dass sie nicht sein Kind sei. Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht. Er habe bis zu seinem Tod nie ein Wort mit ihr gesprochen. Und es sei ihr nicht bewusst, dass er sie jemals angeschaut hätte. Das hat mir meine Mutter erzählt, da war ich erst acht. Mein Großvater wollte mit der Scheuen nichts zu tun haben. Für meine Großmutter war das der Grund, die Scheue mehr als die anderen Kinder zu herzen und auch mehr als die anderen zu mögen. Maria hieß meine schöne Großmutter, der alle Männer nachgestiegen wären, wenn nicht alle Männer Angst vor ihrem Mann gehabt hätten. Aber ich greife vor. Diese Geschichte beginnt nämlich, als meine Mutter noch nicht geboren war. Die Geschichte beginnt, als sie noch gar nicht gezeugt war. Sie beginnt an einem Nachmittag, als Maria wieder einmal die Wäsche an die Leine klammerte. Es war im frühen September 1914. Da sah sie den Postboten unten am Weg. Sie sah ihn schon von Weitem. […] 5 10 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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