Killinger Literaturkunde, Schülerband

380 105. Erschließen Sie die Erzählweise dieses Textausschnittes: • Analysieren Sie die Funktionen des Konjunktivs. • Bestimmen Sie die nachgestellten Erläuterungen und erschließen Sie ihre Rolle für das Erzählen. • Untersuchen Sie die Wirkung des letzten Absatzes, insbesondere des Einstiegssatzes: „Aber ich greife vor.” In ihrem Roman Vati (2021) porträtiert Monika Helfer die Figur des Vaters, die ihrem eigenen Vater nachempfunden ist, jedoch als Romanfigur fiktionalisiert wird. Sie behandelt nicht nur die Vaterfigur, sondern auch das Aufwachsen der Kinder in dieser besonderen Umgebung. Mit diesem Text verarbeitet Monika Helfer einen besonderen Abschnitt ihrer Familiengeschichte. Der Vater ist Witwer, Verwalter eines Kriegsversehrtenheimes, selbst Invalide und Literaturliebhaber, der Bücher über alles schätzt. Im folgenden Abschnitt wird er von der Erzählerin charakterisiert. Monika Helfer: Vati (2021) […] Einige Männer setzen sich vor die anderen auf Stühle, das gehört zum Arrangement, so will es der Fotograf. So sollen sie hocken, nämlich, dass einer den anderen günstig abdeckt. Damit man die Prothesen nicht sieht und nicht sieht, dass hier ein Arm fehlt und dort ein Bein. Der mit der Seeräuberbinde über dem Auge will aber, dass man genau das sieht. »Gut, meinetwegen, dann steh auf! Stell dich nach rechts! Oder doch besser nach links.« Meine Mutter steht neben dem zarten Vater, der sich von allen unterscheidet, das Gesicht blass, die Haare aus der hohen Stirn gekämmt, die Augen halb geschlossen. Die Jacke ist zwei Nummern zu klein, geknöpft der oberste Knopf nur, wie Charlie Chaplin, zu kurze Ärmel, man sieht die weißen Hände mit den Klavierfingern, wie meine Mutter dazu sagte, obwohl mein Vater nichts mit Klavier zu tun hatte. Dagegen die Hose zu weit, auch wie bei Charlie Chaplin, eine Nummer zu groß. Der Bund ist viel zu hoch oben. Doppelbundfalte. Er ist ein kleiner Mann. »Damals waren alle Männer klein«, sagt mein Mann. Er sagt: »Dein Vater sieht aus wie der junge Mao Tse-tung.« »Du bist nicht der Einzige, der das sagt«, sage ich. »Innere Werte waren damals hoch angeschrieben«, sagt mein Mann. Ich sage: »Mein Vater war eindeutig der, der sich in der Tiefe ausgekannt hat. Nicht einen Faustschlag hätte er parieren können. Zwei Faustschläge hintereinander hätten ihn umgebracht. Aber die Stiere und Halbstiere, alle hatten sie Respekt vor ihm.« »Die Tiefe, ha«, sagt mein Mann. »Weil er Tiefe hatte, ja«, sage ich. Mein Mann und mein Vater konnten einander gut leiden. Das hat angefangen, als mein Vater zum ersten Mal zu ihm sagte – da waren wir noch nicht verheiratet –, er dürfe gern ein Buch aus dem Regal nehmen, und mein Mann es in seinen Händen hielt, wie ich ihn gewarnt hatte, dass er es unbedingt tun soll und ja nicht anders, nämlich behutsam, wertschätzend, zärtlich, als wäre es etwas Lebendiges. […] 106. Untersuchen Sie, wie in diesem Textabschnitt die Person des Vaters charakterisiert wird: • Fassen Sie die wesentlichen Merkmale der Figur des Vaters zusammen. • Analysieren Sie, welche Passagen die Figur direkt bzw. indirekt charakterisieren (siehe Abschnitt Charakterisierung, S. 451). • Erlä utern Sie, welche der beiden Vorgangsweisen fü r Sie schlü ssiger und eindrucksvoller ist. 5 10 15 20 25 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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