380 Monika Helfer: Vati (2021) […] Einige Männer setzen sich vor die anderen auf Stühle, das gehört zum Arrangement, so will es der Fotograf. So sollen sie hocken, nämlich, dass einer den anderen günstig abdeckt. Damit man die Prothesen nicht sieht und nicht sieht, dass hier ein Arm fehlt und dort ein Bein. Der mit der Seeräuberbinde über dem Auge will aber, dass man genau das sieht. »Gut, meinetwegen, dann steh auf! Stell dich nach rechts! Oder doch besser nach links.« Meine Mutter steht neben dem zarten Vater, der sich von allen unterscheidet, das Gesicht blass, die Haare aus der hohen Stirn gekämmt, die Augen halb geschlossen. Die Jacke ist zwei Nummern zu klein, geknöpft der oberste Knopf nur, wie Charlie Chaplin, zu kurze Ärmel, man sieht die weißen Hände mit den Klavierfingern, wie meine Mutter dazu sagte, obwohl mein Vater nichts mit Klavier zu tun hatte. Dagegen die Hose zu weit, auch wie bei Charlie Chaplin, eine Nummer zu groß. Der Bund ist viel zu hoch oben. Doppelbundfalte. Er ist ein kleiner Mann. »Damals waren alle Männer klein«, sagt mein Mann. Er sagt: »Dein Vater sieht aus wie der junge Mao Tse-tung.« »Du bist nicht der Einzige, der das sagt«, sage ich. »Innere Werte waren damals hoch angeschrieben«, sagt mein Mann. Ich sage: »Mein Vater war eindeutig der, der sich in der Tiefe ausgekannt hat. Nicht einen Faustschlag hätte er parieren können. Zwei Faustschläge hintereinander hätten ihn umgebracht. Aber die Stiere und Halbstiere, alle hatten sie Respekt vor ihm.« »Die Tiefe, ha«, sagt mein Mann. »Weil er Tiefe hatte, ja«, sage ich. Mein Mann und mein Vater konnten einander gut leiden. Das hat angefangen, als mein Vater zum ersten Mal zu ihm sagte – da waren wir noch nicht verheiratet –, er dürfe gern ein Buch aus dem Regal nehmen, und mein Mann es in seinen Händen hielt, wie ich ihn gewarnt hatte, dass er es unbedingt tun soll und ja nicht anders, nämlich behutsam, wertschätzend, zärtlich, als wäre es etwas Lebendiges. […] 97. Untersuchen Sie, wie in diesem Textabschnitt die Person des Vaters charakterisiert wird: • Fassen Sie die wesentlichen Merkmale der Figur des Vaters zusammen. • Analysieren Sie, welche Passagen die Figur direkt bzw. indirekt charakterisieren (siehe Abschnitt Charakterisierung, S. 451). • Erlautern Sie, welche der beiden Vorgangsweisen fur Sie schlussiger und eindrucksvoller ist. In seinem Text Die Hauptstadt (2017) porträtiert der Schriftsteller und Essayist Robert Menasse (geb. 1954 in Wien) das Leben und die Institutionen der Europäischen Union, wie sie sich in Brüssel manifestieren. Einerseits humorvoll, andererseits aber auch kritisch und mit viel Sachkenntnis stellt Menasse das Leben der einzelnen Charaktere dar und zeichnet damit ein Bild Europas, das von viel Sympathie getragen ist. Im folgenden Abschnitt wird die Beamtin Fenia Xenopoulou dargestellt, die den Auftrag bekommt, das Image der Europäischen Kommission durch entsprechende kulturelle Aktivitäten zu verbessern. Robert Menasse: Die Hauptstadt (2017) Fenia Xenopoulou hatte zunächst in der Generaldirektion für Wettbewerb gearbeitet. Der Kommissar, ein Spanier, war ahnungslos gewesen. Aber jeder Kommissar ist so gut wie sein Büro, und sie war als ein hervorragender Teil eines perfekt funktionierenden Büros aufge5 10 15 20 25 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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