DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 381 fallen. Sie ließ sich scheiden. Sie hatte weder Zeit noch Lust, jedes zweite oder später jedes dritte oder vierte Wochenende einen Mann in ihrem Brüsseler Apartment sitzen zu haben oder in Athen zu besuchen, der über irgendwelche Intimitäten der Athener Society plauderte und dabei Zigarren paffte wie die Karikatur eines Neureichen. Sie hatte einen Staranwalt geheiratet und warf einen Provinzadvokaten aus der Wohnung! Dann kletterte sie eine Sprosse höher und kam ins Kabinett des Kommissars für Handel. Im Handel erwirbt man Meriten, wenn man Handelsbeschränkungen zertrümmert. Es gab für sie kein Privatleben mehr, keine Fesseln, es gab nur den freien Welthandel. Sie glaubte wirklich, dass die Karriere, die sie vor sich sah, ihr Lohn dafür sein werde, dass sie an einer Verbesserung der Welt Anteil hatte. Fair Trade war für sie eine Tautologie1. Trade war doch die Voraussetzung für globale Fairness. Der Kommissar, ein Holländer, hatte Skrupel. Er war so unglaublich korrekt. Fenia arbeitete hart, um auszurechnen, wie viel Gulden seine Skrupel kosteten. Der Mann rechnete tatsächlich immer noch in Gulden! Der Lorbeer, den er erhielt, wenn Fenia ihn überzeugt hatte, war Goldes wert! Nun sollte der nächste Sprung kommen. Sie erwartete, nach den europäischen Wahlen bei der Neukonstituierung der Kommission weiter aufzusteigen. Und tatsächlich: Sie wurde befördert. Sie bekam eine Abteilung. Was war das Problem? Sie empfand diese Beförderung als Rückstufung, als Karriereknick, als Abschiebung: Sie wurde Leiterin der Direktion C (»Kommunikation«) in der Generaldirektion für Kultur! Kultur! 98. Interpretieren Sie den vorliegenden Abschnitt aus Robert Menasses Roman Die Hauptstadt nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten: • Beschreiben Sie das Erzahlverhalten, das in dieser Stelle zutage tritt (siehe S. 443f.). • Erschließen Sie Mittel der ironischen Erzählweise, die der Autor anwendet. • Nehmen Sie begründet Stellung, ob die Protagonistin eher sympathisch oder unsympathisch auf Sie wirkt. • Diskutieren Sie die Wirkung dieses Abschnitts auf die Leserin/den Leser. In seinem Roman Der Trafikant (2012) schildert Robert Seethaler (geb. 1966 in Wien) die Begegnung zwischen einem jungen Burschen aus dem Salzkammergut mit dem berühmten Sigmund Freud im Jahr 1938. In der fiktiven Handlung entwickelt sich eine Freundschaft zwischen dem Trafikantengehilfen Franz und dem berühmten Psychiater und gleichzeitig wird die Zeit der ausgehenden 30er Jahre lebendig. Robert Seethaler: Der Trafikant (2012) »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Herr Professor?« »Kommt auf die Frage an.« »Stimmt es, dass Sie den Leuten ihre Schädel wieder gerade richten können? Und ihnen hernach beibringen, wie ein ordentliches Leben ausschaut?« Freud nahm seinen Hut erneut ab, legte sich sorgfältig eine dünne, schneeweiße Strähne hinters Ohr, setzte den Hut wieder auf und sah Franz von der Seite an. »Erzählt man sich das in der Trafik oder bei dir zuhause im Salzkammergut?« 5 10 15 20 1 Tautologie: Wiederholung einer Aussage mittels gleichbedeutender Wörter (in der Regel derselben Wortart: z. B. NomenNomen). Sie dient der Verstärkung bzw. der Hervorhebung des Gesagten und wird oft gleichbedeutend mit Pleonasmus (Wiederholung des gleichen Gedankens mit Hilfe verschiedener Wortarten: z.B. Adjektiv – Nomen) verwendet. 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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