DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 381 In seinem Text Die Hauptstadt (2017) porträtiert der Schriftsteller und Essayist Robert Menasse (geb. 1954 in Wien) das Leben und die Institutionen der Europäischen Union, wie sie sich in Brüssel manifestieren. Einerseits humorvoll, andererseits aber auch kritisch und mit viel Sachkenntnis stellt Menasse das Leben der einzelnen Charaktere dar und zeichnet damit ein Bild Europas, das von viel Sympathie getragen ist. Im folgenden Abschnitt wird die Beamtin Fenia Xenopoulou dargestellt, die den Auftrag bekommt, das Image der Europäischen Kommission durch entsprechende kulturelle Aktivitäten zu verbessern. Robert Menasse: Die Hauptstadt (2017) Fenia Xenopoulou hatte zunächst in der Generaldirektion für Wettbewerb gearbeitet. Der Kommissar, ein Spanier, war ahnungslos gewesen. Aber jeder Kommissar ist so gut wie sein Büro, und sie war als ein hervorragender Teil eines perfekt funktionierenden Büros aufgefallen. Sie ließ sich scheiden. Sie hatte weder Zeit noch Lust, jedes zweite oder später jedes dritte oder vierte Wochenende einen Mann in ihrem Brüsseler Apartment sitzen zu haben oder in Athen zu besuchen, der über irgendwelche Intimitäten der Athener Society plauderte und dabei Zigarren paffte wie die Karikatur eines Neureichen. Sie hatte einen Staranwalt geheiratet und warf einen Provinzadvokaten aus der Wohnung! Dann kletterte sie eine Sprosse höher und kam ins Kabinett des Kommissars für Handel. Im Handel erwirbt man Meriten, wenn man Handelsbeschränkungen zertrümmert. Es gab für sie kein Privatleben mehr, keine Fesseln, es gab nur den freien Welthandel. Sie glaubte wirklich, dass die Karriere, die sie vor sich sah, ihr Lohn dafür sein werde, dass sie an einer Verbesserung der Welt Anteil hatte. Fair Trade war für sie eine Tautologie1. Trade war doch die Voraussetzung für globale Fairness. Der Kommissar, ein Holländer, hatte Skrupel. Er war so unglaublich korrekt. Fenia arbeitete hart, um auszurechnen, wie viel Gulden seine Skrupel kosteten. Der Mann rechnete tatsächlich immer noch in Gulden! Der Lorbeer, den er erhielt, wenn Fenia ihn überzeugt hatte, war Goldes wert! Nun sollte der nächste Sprung kommen. Sie erwartete, nach den europäischen Wahlen bei der Neukonstituierung der Kommission weiter aufzusteigen. Und tatsächlich: Sie wurde befördert. Sie bekam eine Abteilung. Was war das Problem? Sie empfand diese Beförderung als Rückstufung, als Karriereknick, als Abschiebung: Sie wurde Leiterin der Direktion C (»Kommunikation«) in der Generaldirektion für Kultur! Kultur! 107. Interpretieren Sie den vorliegenden Abschnitt aus Robert Menasses Roman Die Hauptstadt: • Beschreiben Sie das Erzä hlverhalten, das in dieser Stelle zutage tritt (siehe S. 443f.). • Erschließen Sie Mittel der ironischen Erzählweise, die der Autor anwendet. • Nehmen Sie begründet Stellung, ob die Protagonistin eher sympathisch oder unsympathisch auf Sie wirkt. • Deuten Sie den Begriff „Kultur“, wie er in diesem Textabschnitt verwendet wird. • Diskutieren Sie die Wirkung dieses Abschnitts auf die Leserin/den Leser. In seinem Roman Der Trafikant (2012) schildert Robert Seethaler (geb. 1966 in Wien) die Begegnung zwischen einem jungen Burschen aus dem Salzkammergut mit dem berühmten Sigmund Freud im Jahr 1938. In der fiktiven Handlung entwickelt sich eine Freundschaft zwischen dem Trafikantengehilfen Franz und dem berühmten Psychiater und gleichzeitig wird die Zeit der ausgehenden 30er Jahre lebendig. 5 10 1 Tautologie: Wiederholung einer Aussage mittels gleichbedeutender Wörter (in der Regel derselben Wortart: z. B. NomenNomen). Sie dient der Verstärkung bzw. der Hervorhebung des Gesagten und wird oft gleichbedeutend mit Pleonasmus (Wiederholung des gleichen Gedankens mit Hilfe verschiedener Wortarten: z.B. Adjektiv – Nomen) verwendet. 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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