382 »Weiß nicht«, sagte Franz und zuckte mit den Schultern. »Wir rücken überhaupt nichts gerade. Aber wenigstens renken wir auch nichts aus, und das ist in den heutigen Ordinationen gar nicht so selbstredend. Wir können gewisse Verirrungen erklären, und in manchen eingebungsvollen Stunden können wir das, was wir gerade eben erklärt haben, sogar beeinflussen. Das ist alles«, presste Freud hervor, und es hörte sich an, als ob ihm jedes einzelne Wort Schmerzen bereiten würde. »Aber auch das ist nicht wirklich sicher«, fügte er mit einem kleinen Seufzer hinzu. »Und wie stellen Sie da alles an?« »Die Menschen legen sich auf meine Couch und beginnen zu reden.« »Das klingt gemütlich.« »Die Wahrheit ist selten gemütlich«, widersprach Freud und hüstelte in das dunkelblaue Stofftaschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte. »Hm«, sagte Franz, »darüber muss ich nachdenken.« Er blieb stehen, blickte schräg nach oben und versuchte seine wild durcheinanderspringenden Gedanken auf einen Punkt weit über den Dächern der Stadt und seiner eignen Vorstellungskraft zu sammeln. »Und?«, fragte der Professor, nachdem ihn dieser merkwürdige, ein wenig aufdringliche Trafikantenbub wieder eingeholt hatte. »Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?« »Erst einmal zu gar keinem. Aber das macht nichts. Ich werde mir Zeit nehmen, um noch länger darüber nachzudenken. Außerdem werde ich mir Ihre Bücher kaufen und sie lesen. Und zwar alle und von vorne bis hinten!“ Zum wiederholten Male seufzte Freud. Eigentlich konnte er sich überhaupt nicht entsinnen, jemals in so kurzer Zeit so oft geseufzt zu haben. 99. Untersuchen Sie die Erzahlperson im vorliegenden Abschnitt aus Robert Seethalers Der Trafikant: • Fassen Sie den Inhalt dieser Stelle kurz zusammen. • Klären Sie, wie viel die Erzahlperson weiß und was sie an den Leser/die Leserin weitergibt. • Erlautern Sie die Wirkung dieser Erzahlweise. In ihrem Roman Vienna (2005) beschäftigt sich die Halbschwester von Robert Menasse, die Journalistin und Schriftstellerin Eva Menasse (geb. 1970 in Wien) mit dem durch fiktionale Elemente angereicherten Leben ihrer Familie. Die anekdotisch wirkenden Texte schildern die Situation einer jüdisch-katholischen Familie, beginnend im Wien der Zwischenkriegszeit. Der humorvoll-ironische Ton des Textes erinnert an die Sammlung von Anekdoten, die Friedrich Torberg (1908 – 1979) unter dem Titel Die Tante Jolesch (1975) herausgebracht hat. Die folgende Stelle schildert die Geburt des Vaters der Erzählerin und schließt thematisch und im Ton an andere Erzählungen (z. B. Günter Grass (1927 – 2015): Die Blechtrommel, Laurence Sterne (1713 – 1768): Tristram Shandy) an, in denen die Geburt einer Hauptperson in humorvoller Weise beschrieben wird. Eva Menasse: Vienna (2005) Mein Onkel, der damals sieben Jahre alt war, erwachte, als das Licht anging. Er schlief auf einem schmalen Sofa, das quer zum Ehebett seiner Eltern an dessen Fußende stand. Er erwachte, weil es plötzlich hell war und weil seine Mutter schrie. Sie lag in ihrem Pelzmantel, einem schwarzen Persianer, quer über dem Ehebett. Mein Großvater schrie auch, aber von der Tür her. Außerdem schrie mein Vater, der, wie es später immer wieder erzählt wurde, einfach herausgerutscht war und den Pelzmantel verdorben hatte. Mein Vater schrie, weil das für ein Neugeborenes normal ist. Zeit seines Lebens würde 10 15 20 25 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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