DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 383 Eva Menasse: Vienna (2005) Mein Onkel, der damals sieben Jahre alt war, erwachte, als das Licht anging. Er schlief auf einem schmalen Sofa, das quer zum Ehebett seiner Eltern an dessen Fußende stand. Er erwachte, weil es plötzlich hell war und weil seine Mutter schrie. Sie lag in ihrem Pelzmantel, einem schwarzen Persianer, quer über dem Ehebett. Mein Großvater schrie auch, aber von der Tür her. Außerdem schrie mein Vater, der, wie es später immer wieder erzählt wurde, einfach herausgerutscht war und den Pelzmantel verdorben hatte. Mein Vater schrie, weil das für ein Neugeborenes normal ist. Zeit seines Lebens würde mein Vater die Dinge gewissenhaft so machen, wie er sie für normal hielt, auch wenn ihm das objektiv selten gelingen sollte. Die Einstellung meiner Großmutter zu dieser letzten Schwangerschaft und diese Geburt selbst erforderten es allerdings besonders, sich von Anfang an so normal wie möglich zu verhalten. Denn meine Großmutter, bereits über vierzig, hatte dieses dritte Kind nicht haben wollen. Sie hatte mit Stricknadeln, heißen Sitzbädern und mit Vom-Tisch-Springen versucht, es loszuwerden. Sie erzählte das später gern. Aber mein Vater war den Stricknadeln ausgewichen und hatte sich bei den Sprüngen angeklammert, so müsse es gewesen sein, sagte man in meiner Familie später immer und nickte dazu. Über die heißen Bäder sagte man nichts. Er wollte es ihr dann recht machen, indem er schnell und schmerzlos herausrutschte, aber meiner Großmutter hat es selten jemand recht machen können. Mein Vater hatte die Bridgepartie verdorben und er verdarb den schwarzen Persianer, eines der großzügigen Geschenke, mit denen mein Großvater seine zahllosen Seitensprünge zu sühnen versucht hatte. Meine Großmutter geruhte diese Geschenke wortlos anzunehmen und ins Kaffeehaus zu gehen, um Bridge zu spielen. 109. Untersuchen Sie die vorliegende Textstelle aus Vienna von Eva Menasse: • Beschreiben Sie die formalen Mittel, die diese Stelle kennzeichnen. • Erlä utern Sie, wie der humorvolle Ton dieser Passage erreicht wird. Teresa Präauer (geb. 1979) ist sowohl als bildende Künstlerin als auch als Autorin hervorgetreten. In ihren Texten greift sie immer wieder Anregungen der bildenden Kunst auf. Von besonderer Bedeutung sind Tiere und ihre Rolle in der Natur, aber auch in der Kunst (Tier werden, 2018). Ihre Texte sind durch vielfältige Bezüge zum gesellschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Leben der Gegenwart gekennzeichnet. In ihrem Roman Johnny und Jean (2014) über zwei Kunststudenten heißt es: Teresa Präauer: Johnny und Jean (2014) Holy Shit, sage ich mir, und stelle mir vor, wie ich als junger Mann durch New York flaniere. Es wird schon noch der Zeitpunkt dafür kommen. Ich will nicht einfach hinfliegen. Erstens hätte ich das Geld dafür nicht, zweitens, und das ist viel wichtiger, will ich erst hinfliegen, wenn es einen Anlass dazu gibt. Eine Ausstellung zum Beispiel. Etwas, was ich dort zu tun haben werde. Ich will kein Tourist sein in New York. Ich möchte einen Business-Anzug tragen, dazu Bart, lange Haare und die rot-blau-weiße Wintermütze meines Vaters. Weil ich groß gewachsen bin, werde ich nicht aussehen wie ein Zwerg. Ich werde sogar sehr cool aus sehen. Niemand wird sagen, hey, ich dachte, Sie sind in dieser Galerie die Putzkraft, der Kellner, der Schuhputzer. Ich werde klar als Künstler der Galerie erkennbar sein, als Artist in Residence, ich: ein Bildnis des Künstlers als junger Mann. 5 10 15 20 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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