404 als Buch herausgegeben, um für diese Form der Literatur eine Bühne zu schaffen und potenzielle Autorinnen und Autoren zu ermuntern, schriftstellerisch tätig zu werden. Der erste Band dieser Reihe erschien 1996 unter dem Titel Jeder ist irgendwo ein Fremder. In den anfangs publizierten Texten ging es vorwiegend um Themen wie Herkunft, nationale Identität, die Auseinandersetzung mit der Kultur der alten und der neuen Heimat, die Aufnahme im Exilland sowie das Ringen um (die neue) Sprache. Seit 2009 wird daneben von der Stadt Hohenems alle zwei Jahre der „Hohenemser Literaturpreis für deutschsprachige Autor*innen nichtdeutscher Muttersprache“ vergeben. Diese Initiativen haben zweifelsohne viel zur Förderung der Schreibenden mit anderen Erstsprachen beigetragen, andererseits werden diese Schreibenden gerne aufgrund ihrer Herkunft in bestimmte Schubladen gesteckt. Das Etikett „Migrantenliteratur“ und auch alternative Bezeichnungen lehnen Autoren und Autorinnen wie die türkisch-österreichische Schriftstellerin Seher Çakir (geb. 1977) ab, weil sie ihrer Meinung nach die so bezeichneten „Migrationsliterat:innen“ auf Themen wie Migration, Assimilation, Emigration, Nation und Identifikation reduzieren und damit von ihren anderen Anliegen und ihrem künstlerischen Anspruch ablenken. Hinzu kommt, dass solche Texte in erster Linie autobiografisch gelesen bzw. – wenn überhaupt – von der Kritik auch als solche besprochen werden, ihre literarischen und sprachlichen Eigenheiten werden demgegenüber gerne übersehen. Dieser oftmals biografisierende Zugang zur Literatur von Autorinnen und Autoren mit „Migrationshintergrund“ zeigt sich auch am einengenden Begriff „Literatur der Betroffenheit“. Die Literarizität der Texte, ihre Stilistik und Rhetorik werden ignoriert, sprachspielerische Innovationen der Texte werden als Fehler und Makel rezipiert und nicht als Bereicherung der deutschen Sprache gesehen. So meint auch der in Sivas, Türkei, geborene Autor Ercüment Aytac (geb. 1965) in einem Interview 2005: Nach vierzig Jahren Migrationsgeschichte ist Integration immer noch das Top-Thema in Österreich, was ich traurig finde. […] Im Mittelpunkt steht die Lust am Schreiben. Das Spiel mit der Sprache. Die künstlerische Selbstverwirklichung. Und vor allem: das Recht zum Träumen. Dabei besteht die große Herausforderung beim Schreiben von Literatur einerseits darin, das literarische Handwerk (Welches literarische Genre wähle ich, welchen Erzähler/welche Erzählerin führe ich ein, wie charakterisiere ich die Figuren usw.?) zu beherrschen und andererseits die Sprache, das wichtigste Werkzeug einer Schriftstellerin, eines Schriftstellers, souverän einsetzen zu können. In einer fremden Sprache über Erlebnisse zu schreiben, die man in einer anderen Sprache erlebt hat, ist umso schwieriger. „Ich frage mich oft, welche Auswirkungen der Sprachwechsel auf seine Arbeit als Schriftsteller hatte“, meint die Historikerin Anka Muhlstein (geb. 1935 in Paris) über das Werk ihres Mannes Louis Begley (geb. 1933) dessen Erstsprache Polnisch war und der seine Bücher auf Englisch verfasste. Die in St. Petersburg geborene Julya Rabinowich (geb. 1970) kam als Volksschulkind nach Wien und ist heute eine weithin anerkannte österreichische Autorin. Der Herausforderung der neuen deutschen Sprache stellte sie sich mit vollem Ehrgeiz, bis sie Klassenbeste wurde. Ihre Sprachgeschichte schildert sie so: Deutsch konnte ich kaum, aber mit großer Anstrengung habe ich das Jahr trotzdem geschafft. Dann habe ich beschlossen, perfekt Deutsch zu lernen, weil ich bemerkt habe, dass ich zusammen mit den Türken und Jugoslawen das absolute Schlusslicht in der Rangordnung innerhalb der Klasse eingenommen habe. Ich habe mir überlegt, was wir gemeinsam hatten. Neben der schlechteren Kleidung hatten wir alle Probleme mit der deutschen Sprache. Dass ich mir keine bessere Kleidung leisten konnte, war mir klar. Deshalb wollte ich wenigstens alles tun, was ich selbst beeinflussen konnte, um mich an die deutschsprachigen Kinder anzupassen. 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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