404 LITERATUR UND MIGRATION Spätestens seit den 1990er Jahren werden die deutsche und die österreichische Literaturszene durch Schreibende mit Migrationshintergrund bereichert. Vom Literaturbetrieb und von den Leserinnen und Lesern wurden die Texte dieser Literaturschaffenden zuerst nur zögerlich wahrgenommen. Zu ihrer Förderung wurde in Österreich die Edition Exil gegründet, ein Verlag der mittels Schreibwerkstätten und mit Erstveröffentlichungen Autorinnen und Autoren fördert, die, aus einer anderen Sprache und Kultur kommend, in deutscher Sprache schreiben. Seit 1997 vergibt der Verlag jährlich acht Exil-Literaturpreise für „schreiben zwischen den kulturen“. Die Gewinnertexte werden jedes Jahr als Buch herausgegeben, um für diese Form der Literatur eine Bühne zu schaffen und potenzielle Autorinnen und Autoren zu ermuntern, schriftstellerisch tätig zu werden. Der erste Band dieser Reihe erschien 1996 unter dem Titel Jeder ist irgendwo ein Fremder. In den anfangs publizierten Texten ging es vorwiegend um Themen wie Herkunft, nationale Identität, die Auseinandersetzung mit der Kultur der alten und der neuen Heimat, die Aufnahme im Exilland sowie das Ringen um (die neue) Sprache. Seit 2009 wird daneben von der Stadt Hohenems alle zwei Jahre der „Hohenemser Literaturpreis für deutschsprachige Autor*innen nichtdeutscher Muttersprache“ vergeben. Diese Initiativen haben zweifelsohne viel zur Förderung der Schreibenden mit anderen Erstsprachen beigetragen, andererseits werden diese Schreibenden gerne aufgrund ihrer Herkunft in bestimmte Schubladen gesteckt. Das Etikett „Migrantenliteratur“ und auch alternative Bezeichnungen lehnen Autoren und Autorinnen wie die türkisch-österreichische Schriftstellerin Seher Çakir (geb. 1977) ab, weil sie ihrer Meinung nach die so bezeichneten „Migrationsliterat:innen“ auf Themen wie Migration, Assimilation, Emigration, Nation und Identifikation reduzieren und damit von ihren anderen Anliegen und ihrem künstlerischen Anspruch ablenken. Hinzu kommt, dass solche Texte in erster Linie autobiografisch gelesen bzw. – wenn überhaupt – von der Kritik auch als solche besprochen werden, ihre literarischen und sprachlichen Eigenheiten werden demgegenüber gerne übersehen. Dieser oftmals biografisierende Zugang zur Literatur von Autorinnen und Autoren mit „Migrationshintergrund“ zeigt sich auch am einengenden Begriff „Literatur der Betroffenheit“. Die Literarizität der Texte, ihre Stilistik und Rhetorik werden ignoriert, sprachspielerische Innovationen der Texte werden als Fehler und Makel rezipiert und nicht als Bereicherung der deutschen Sprache gesehen. So meint auch der in Sivas, Türkei, geborene Autor Ercüment Aytac (geb. 1965) in einem Interview 2005: Nach vierzig Jahren Migrationsgeschichte ist Integration immer noch das Top-Thema in Österreich, was ich traurig finde. […] Im Mittelpunkt steht die Lust am Schreiben. Das Spiel mit der Sprache. Die künstlerische Selbstverwirklichung. Und vor allem: das Recht zum Träumen. Dabei besteht die große Herausforderung beim Schreiben von Literatur einerseits darin, das literarische Handwerk (Welches literarische Genre wähle ich, welchen Erzähler/welche Erzählerin führe ich ein, wie charakterisiere ich die Figuren usw.?) zu beherrschen und andererseits die Sprache, das wichtigste Werkzeug einer Schriftstellerin, eines Schriftstellers, souverän einsetzen zu können. In einer fremden Sprache über Erlebnisse zu schreiben, die man in einer anderen Sprache erlebt hat, ist umso schwieriger. „Ich frage mich oft, welche Auswirkungen der Sprachwechsel auf seine Arbeit als Schriftsteller hatte“, meint die Historikerin Anka Muhlstein (geb. 1935 in Paris) über das Werk ihres Mannes Louis Begley (geb. 1933) dessen Erstsprache Polnisch war und der seine Bücher auf Englisch verfasste. 2 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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