406 Am Ende des Ganges im Erdgeschoß ist ein kleines Zimmer, in dem sich alle Wasch- und Putzmittel befinden. Das Zimmer wird Besenkammerl genannt. Im Besenkammerl residiert die Chefputzfrau. Sie ist eine Frau undefinierbaren Alters, die einen hellgrauen Kittel mit weißem Kragen trägt. Der obere Kragenknopf ist immer sorgfältig geschlossen, der Kittel glattgebügelt. Sie lächelt nie, denn sie weiß ihre Macht würdevoll zu tragen, sitzt aufrecht, etwas steif auf ihrem Stuhl, erteilt in knappen Sätzen Befehle an ihre Untergebenen: Milena, Jovanka und meine Mutter. Milena stammt aus dem serbischen Sandschak1, spricht nur einige Brocken Deutsch, ist eine äußerst stille junge Frau, die beim Putzen, für die anderen kaum hörbar, ein Lied summt, nie eine Pause einlegt, nach getaner Arbeit nur ein schüchternes „Auf Wiedersehen“ murmelt und geht. Jovanka lerne ich gleich am ersten Nachmittag etwas besser kennen. Sie hat es sich im Besenkammerl, zwischen den Staubsaugern, Kübeln, Fetzen, Fläschchen und Tuben mit Reinigungsmitteln, auf dem Stuhl bequem gemacht, hat eine Schnapsflasche in der Hand und begrüßt Mutter mit einem freudigen: „Chefin heute nicht da. Chefin krank! Heute schöner Tag. Heute wie Feiertag. Da, nimm auch was!“ Sie hält Mutter die Flasche entgegen und strahlt übers ganze Gesicht. Ich sehe, dass ihr einige Schneidezähne fehlen. „Trink, Kollega!“ Mutter lehnt dankend ab. Da bemerkt Jovanka mich, winkt mich zu sich, nimmt mich auf den Schoß, sagt etwas Freundliches auf Serbisch. „Nettes Kind hast du“, sagt sie zu Mutter. „Mein Sohn ist schon groß, fünfzehn.“ Mutter holt die Putzutensilien, füllt einen Kübel mit Wasser. Sie muss mit den Toiletten beginnen. Dann sind Werkskantine und Küche an der Reihe, anschließend die Archivräume, die Vorräume und Korridore und erst zuletzt, wenn die meisten Angestellten schon nach Hause gegangen sind, die Büroräume. „Ruh dich aus“, sagt Jovanka. „Milena macht alles. Milena brav. Milena immer brav.“ Sie lacht. Doch Mutter schüttelt den Kopf und geht. „Ich werde nicht dafür bezahlt, Schnaps zu trinken“, erklärt sie mir. „Außerdem kann ich harte Getränke nicht ausstehen.“ Mit Milena und Jovanka habe ich nicht viel zu tun. Sie putzen meist nicht auf demselben Stockwerk wie Mutter. Die beiden Frauen, die einander nicht sonderlich zu mögen scheinen, unterhalten sich manchmal auf Serbisch, und ich erinnere mich, wie ein älterer Angestellter sie ermahnt: „Ihr seid jetzt in Österreich, also redet gefälligst Deutsch. Wir wollen auch verstehen, was ihr da sagt. Sonst wär‘s ja noch schöner.“ Frau Dorfmeister, die Chefputzfrau, ist nur selten krank. Feierlich, fast als wäre es ein sakrales Ritual2, teilt sie Staubsauger, Kübel, Fetzen, Besen aus, sagt: „Jovanka! Putzen erster Stock heute! Milena! Heute putzen zweiter und dritter Stock! Dann Mistkübel ausleeren in Büros!“ Zu meiner Mutter gewandt: „Du jetzt putzen Klos im Erdgeschoß! Dann ordentlich staubsaugen Vorraum. Ordentlich ist ordentlich! Ja? Auch Ecken! Ja? Nicht vergessen Staubwischen großer Tisch.“ Mutter nickt, zieht ihren Arbeitskittel über, bindet sich ein Kopftuch um, legt die Brille ins Etui. Ich aber wundere mich, warum die Frau so sonderbar spricht, und frage: „Warum reden Sie denn so falsch?“ Mutter wirft mir einen strengen Blick zu und schüttelt den Kopf. Die Chefputzfrau jedoch antwortet in perfektem Wienerisch: „Sei ruhig, du bleder G‘schropp. Mit dir red‘t eh kaana.“ Und zu meiner Mutter gewandt: „Kind darf hier nicht bleiben. Kind muss weg!“ 1 Sandschak: geographische Region beiderseits der Grenze zwischen Montenegro und Serbien 2 sakrales Ritual: religiöse Zeremonie 5 10 15 20 25 30 35 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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