407 Aber ich darf trotzdem bleiben, weil der Leiter des Ökonomats1, unmittelbarer Vorgesetzter der Chefputzfrau, bei dem sie sich über meine Anwesenheit beschwert, nur gutmütig gelächelt und „Jo mei“ gesagt hat. „Wenn jede Mitarbeiterin das tut, haben wir hier bald einen Kindergarten“, wird sich die Chefputzfrau noch oft aufregen und hinzufügen: „Wenn sie nicht weiß, wohin mit dem Kind, dann soll sie zu Hause bleiben und nicht arbeiten gehen.“ „Habe ich dir nicht schon oft gesagt: Reden ist Silber, aber Schweigen ist Gold“, erklärt mir Mutter, während sie die Pissoirs säubert. „Wenn du einen dummen Menschen triffst, sei lieber still und lächle. Mit einem gewinnenden Lächeln gewinnst du die Welt.“ Eines Tages ist Fensterputzen angesagt, und die Chefputzfrau holt eine Sprühdose, auf der Glücklichsauber steht, öffnet den Verschluss: „Du über Glas sprühen! Dann wischen! Wenn du drücken Knopf: Bssst! Knopf drücken, macht bssst! Ja? So funktioniert das! Zuerst sprühen, dann wischen! Ja?“ „Ich verstehe“, sagt Mutter, die in Russland Physik und Mathematik studiert hat. „Ich weiß, wie man mit sowas umgeht. Danke.“ Sie lächelt. „Umso besser! Ja dann: raboti, raboti! Gemma, gemma!“ „Das heißt rabotai, Frau Chefputzfrau.“ „Ach, das ist mir doch egal.“ „Auch gut“, sagt Mutter und lächelt. 15. Interpretieren Sie diesen Textausschnitt: • Beschreiben Sie die Situation der Mutter. • Charakterisieren Sie die „Chefputzfrau“. • Bestimmen Sie die wesentlichen sprachlichen Mittel des Textes und ihre Funktion. • Erschließen Sie, wieso es viele Leute nicht mögen, wenn neben ihnen in einer Fremdsprache gesprochen wird und wieso andererseits viele Menschen mit Menschen mit anderer Erstsprache als Deutsch grammatisch unkorrekt sprechen. • Beurteilen Sie, in welcher Weise der Text der „Migrationsliteratur“ zugeordnet werden kann. • Erörtern Sie, ob der Text einfach eine Erzählung ist oder ob er auch Kritik übt. Anna Kim: Geschichte eines Kindes (2022) Dieser Roman der heute in Wien lebenden Autorin Anna Kim (geb. 1977 in Südkorea) beruht auf einer realen Geschichte. In einer Kleinstadt in den USA bringt 1953 die 20-jährige Carol ein Kind zur Welt, das sie sofort zur Adoption freigibt. Der kleine Daniel (Danny) wird zuerst von Kinderschwestern betreut. Aber das Baby scheint nicht „weiß“ zu sein – ein Skandal in einer den rigorosen Gesetzen der Rassentrennung unterworfenen Gesellschaft. Im folgenden Textausschnitt wohnt die Ich-Erzählerin, eine Autorin aus Österreich namens Franziska, zur Untermiete bei Joan, der Ehefrau des mittlerweile alten, im Krankenhaus liegenden Daniel: 1 Ökonomat: Materialverwaltung 45 50 55 60 INTERKULTURELLE LITERATUR Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==