Killinger Literaturkunde, Schulbuch

408 Sie wusste, dass ich an einem Roman arbeitete, sie hatte eine Schreibtischlampe für mich vom Speicher geholt, ich erwiderte daher, Schreiben sei einsam, aber, beeilte ich mich hinzuzufügen, vielleicht seien es jene, die die Einsamkeit suchen, die das Schreiben finden. Sie sah mich überrascht an, dann lachte sie, das habe sie nicht gemeint. Sie habe gemeint, es müsse schwierig sein, weit und breit die einzige Asiatin zu sein. In Green Bay seien die meisten ursprünglich aus Europa – Deutschland, Belgien, Polen und Irland. Ihre Großeltern etwa seien aus dem Osten Irlands nach Amerika gekommen. Sie habe immer davon geträumt, die grüne Insel einmal zu besuchen, the Emerald Isle, sie habe gehört, die Gesänge der Irischen See seien unvergesslich. Sie verstummte, und ich dachte schon, wir hätten das Thema abgehakt, als sie sagte: In Österreich leben vermutlich auch nicht viele Asiaten. Ich antwortete, ich sei in Wien geboren, ich fühle mich in etwa so asiatisch wie sie. Sie musterte mich misstrauisch. Das glaube sie mir nicht, rief sie endlich aus, den Wurzeln entkomme man nicht – ich sei doch gemischt, oder? Sie betrachtete mich erneut, kürzer diesmal, und kam zu dem Schluss, dass meine hohen Wangenknochen, die Form meiner Augen (das so genannte Mandelformat) und meiner Nase meine ethnische Herkunft, zumindest den dominanten Teil, verrieten. Natürlich, fuhr sie fort, meine Haare seien leicht gewellt und mittelbraun, zudem nicht so dick und fest, die Länge, das heißt die Kürze, mache es jedoch schwer, eine genaue Bestimmung vorzunehmen, und, murmelte sie, ich sei größer und langgliedrig, doch sie irre sich selten, japanisch würde sie ausschließen, ebenso chinesisch, sie kniff ihre Augen zusammen, sei ich Koreanerin? Die Koreaner sähen den Europäern noch am ähnlichsten. Sie resümierte (ohne meine Antwort abzuwarten): Ich sähe aus wie eine koreanisch gefärbte Europäerin. Oder, fragte ich, wie eine europäisch angemalte Koreanerin? Sie lachte. Exactly. Ihr Lachen provozierte mich. Mein Vater, ließ ich mich zu einer Erklärung hinreißen, die sich wie eine Rechtfertigung anfühlte, stamme aus Österreich, meine Mutter aus Südkorea. Joan hob beschwichtigend ihre Hände. Ich dürfe sie nicht falsch verstehen, sie spreche keineswegs als Ahnungslose, sondern als Eingeweihte: Ihr Mann Danny sei in der gleichen Situation wie ich. Er sei der einzige Afroamerikaner in Green Bay, zumindest fühle sich das so an. Wieder blickte sie mich forschend an – oder Hilfe suchend, da ich beharrlich schwieg? Ich wusste nicht, in welcher Form ich an diesem Austausch teilhaben sollte; ich hatte den Eindruck, meine Rolle sei die des Publikums und als solches wäre ich unbeteiligt. Als sie den Faden wiederaufnahm, war ihre Stimme leise. Sie sagte, es sei wichtig, eine Gruppe zu haben, zu der man gehöre, der man sich zugehörig fühlen könne. Don’t you agree? 16. Setzen Sie sich mit dem Text auseinander: • Benennen Sie das Thema des Textausschnittes. • Bestimmen Sie die möglichen Gefühle und Gedanken der Ich-Erzählerin. • Diskutieren Sie die Aussagen von Joan, insbesondere die Feststellung des letzten Absatzes. • Erörtern Sie die Sinnhaftigkeit, jemanden nach seiner „Herkunft“ zu fragen. ­ Ana Marwan (geb. 1980 in Murska Sobota, damalige SFR Jugoslawien) ist eine slowenische Schriftstellerin, die in deutscher und slowenischer Sprache publiziert. Sie lebt in Wien. Mit der Geschichte Wechselkröte hat sie 2022 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. 5 10 15 20 25 30 35 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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