408 Herkunft, zumindest den dominanten Teil, verrieten. Natürlich, fuhr sie fort, meine Haare seien leicht gewellt und mittelbraun, zudem nicht so dick und fest, die Länge, das heißt die Kürze, mache es jedoch schwer, eine genaue Bestimmung vorzunehmen, und, murmelte sie, ich sei größer und langgliedrig, doch sie irre sich selten, japanisch würde sie ausschließen, ebenso chinesisch, sie kniff ihre Augen zusammen, sei ich Koreanerin? Die Koreaner sähen den Europäern noch am ähnlichsten. Sie resümierte (ohne meine Antwort abzuwarten): Ich sähe aus wie eine koreanisch gefärbte Europäerin. Oder, fragte ich, wie eine europäisch angemalte Koreanerin? Sie lachte. Exactly. Ihr Lachen provozierte mich. Mein Vater, ließ ich mich zu einer Erklärung hinreißen, die sich wie eine Rechtfertigung anfühlte, stamme aus Österreich, meine Mutter aus Südkorea. Joan hob beschwichtigend ihre Hände. Ich dürfe sie nicht falsch verstehen, sie spreche keineswegs als Ahnungslose, sondern als Eingeweihte: Ihr Mann Danny sei in der gleichen Situation wie ich. Er sei der einzige Afroamerikaner in Green Bay, zumindest fühle sich das so an. Wieder blickte sie mich forschend an – oder Hilfe suchend, da ich beharrlich schwieg? Ich wusste nicht, in welcher Form ich an diesem Austausch teilhaben sollte; ich hatte den Eindruck, meine Rolle sei die des Publikums und als solches wäre ich unbeteiligt. Als sie den Faden wiederaufnahm, war ihre Stimme leise. Sie sagte, es sei wichtig, eine Gruppe zu haben, zu der man gehöre, der man sich zugehörig fühlen könne. Don’t you agree? 16. Setzen Sie sich mit dem Text auseinander: • Benennen Sie das Thema des Textausschnittes. • Bestimmen Sie die möglichen Gefühle und Gedanken der Ich-Erzählerin. • Diskutieren Sie die Aussagen von Joan, insbesondere die Feststellung des letzten Absatzes. • Erörtern Sie die Sinnhaftigkeit, jemanden nach seiner „Herkunft“ zu fragen. Ana Marwan (geb. 1980 in Murska Sobota, damalige SFR Jugoslawien) ist eine slowenische Schriftstellerin, die in deutscher und slowenischer Sprache publiziert. Sie lebt in Wien. Mit der Geschichte Wechselkröte hat sie 2022 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Ana Marwan: Wechselkröte (2022) Die Ich-Erzählerin zieht von der Großstadt aufs Land, wo sie ein Haus mietet, in dem sie einsame Tage verbringt. Im folgenden Textausschnitt engagiert sie zur Pflege des Gartens einen Gärtner: Alles ist so nackt, ich meine kahl, ich hätte gern einen Baum, sage ich. Bevor irgendwas halbwegs nach einem Baum ausschaut, ziehen Sie weg, sagt er. Einen erwachsenen Baum hätte ich gerne eingepflanzt. Das geht schwer, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der sich nicht verwurzelt, sagt er. Die Sonne pulsiert wie mein Herz, in gleichem Takt. Die Luft wird nur von den flatternden Vögeln bewegt, glaube ich. Sie nisten in den Kletterpflanzen an der Fassade. Unser Haus ist das lauteste. Ich möchte sagen, unser Haus singt, aber meistens zwitschert es nur vielstimmig. Die 20 25 30 35 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MTA2NTcyMQ==