409 Ana Marwan: Wechselkröte (2022) Die Ich-Erzählerin zieht von der Großstadt aufs Land, wo sie ein Haus mietet, in dem sie einsame Tage verbringt. Im folgenden Textausschnitt engagiert sie zur Pflege des Gartens einen Gärtner: Alles ist so nackt, ich meine kahl, ich hätte gern einen Baum, sage ich. Bevor irgendwas halbwegs nach einem Baum ausschaut, ziehen Sie weg, sagt er. Einen erwachsenen Baum hätte ich gerne eingepflanzt. Das geht schwer, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der sich nicht verwurzelt, sagt er. Die Sonne pulsiert wie mein Herz, in gleichem Takt. Die Luft wird nur von den flatternden Vögeln bewegt, glaube ich. Sie nisten in den Kletterpflanzen an der Fassade. Unser Haus ist das lauteste. Ich möchte sagen, unser Haus singt, aber meistens zwitschert es nur vielstimmig. Die Vögel sind mäusegrau und unzählig. Sie scheißen schwarz-weiß. Wir sind hier fertig, alles passt schon so, ich gehe wieder hinein. Ich schaue im Internet nach. Es gibt riesige Bäume zu kaufen in der Hauptstadt, die mehr Verständnis für das Vorübergehende aufbringt, die ich vermisse. Der Baum wird geliefert, denke ich mir, in all seiner Länge, indezent und deplatziert. Er wird über die Mauern des Gartens ragen, und die Einheimischen mit ihren großen, über die Mauern ragenden Bäumen werden mir mein Überspringen der Wartezeit nicht gönnen, das tut man nicht, einen alten Baum verpflanzt man nicht, der verwurzelt sich nicht, wird gesagt, und ich werde fiebern und zuschauen, wie der Baum allmählich austrocknet und abstirbt, einen verfrühten Tod wird er sterben, und wie wird dann die Leiche beseitigt? Wie ich mich kenne, wird der ausgetrocknete Baum ein-fach in der fremden Erde stecken bleiben, ein Zeichen meiner Ungeduld, meines Übermuts. Es ist mir egal, was die Nachbarn über mich reden, aber ich gönne ihnen keine Schadenfreude; ich werde keinen Baum bestellen. Ich kann Gott sei Dank gut meine Vorstellung so lenken, dass ich nichts Gröberes tun muss. Alles passt, wir lassen das Ganze dem Himmel ausgesetzt, und ich bestelle einen Sonnenschirm. Ich gehe eh nicht viel raus, ich habe wenige Gründe rauszugehen, und viele, nicht rauszugehen. Wenn ich rausgehe, setzen sich zehn, zwölf, zwanzig Gelsen auf mich und saugen mein Blut, auch bei strahlender Sonne. Bei Dämmerung ist von Gelsen alles grau. Es gab noch nie so viele Gelsen und Fliegen, hat der Gärtner gesagt, das erfreut die Vögel. Ich verstehe, dass ich für ihr Singen mit Gelsen bezahlen muss. Ich lüfte selten – ich will die Fenster nicht aufmachen. Ich lüfte nur ab und zu zu Mittag, wenn es am Heißesten ist, damit so wenig Gelsen wie möglich hereinkommen. Es kommen aber Fliegen herein und reiben sich ihre Hände. Wenn das Fenster offen ist, zwitschert es, wenn es zu ist, summt es. Ich ziehe die Bluse, die mir der Briefträger gebracht hat, an und fahre mit dem Zug Gelsennetze besorgen. Ich will mich beraten lassen, damit ich das Gefühl loswerde, dass das Internet meine einzige Verbindung zur Außenwelt ist. 17. Interpretieren Sie diesen Textausschnitt: • Fassen Sie das Geschehen in diesem Textausschnitt zusammen. • Charakterisieren Sie die Ich-Erzählerin. • Die Mehrzahl der Absätze beginnt „Ich…“. Deuten Sie dieses Phänomen. • Machen Sie Vorschläge, wie man die Baumsymbolik verstehen kann. 18. Suchen Sie den Gesamttext im Internet und setzen Sie sich damit auseinander: • Lesen Sie den ganzen Text. • Kommentieren Sie die Diskussion der Jury zu diesem Text. • Begründen Sie, welche Aussagen über den Text Wechselkröte für Sie am zutreffendsten sind. 5 10 15 20 25 30 INTERKULTURELLE LITERATUR Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==