Killinger Literaturkunde, Schülerband

DEUTSCHE LITERATUR IM KONTEXT DER WELTLITERATUR 411 und des Philosophen Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) sowie das absurde Theater des irischen Autors Samuel Beckett (1906 – 1989) und des französisch-rumänischen Autors Eugène Ionesco (1909 – 1994) hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Ab den 1960er Jahren gewann die lateinamerikanische Literatur an internationaler Popularität. Sie umfasst u.a. auch die Literatur in den indigenen Sprachen Süd- und Mittelamerikas sowie die afrobrasilianische Literatur. Der Magische Realismus, eine Bezeichnung für eine Synthese des Phantastischen, Mythischen und Realistischen war typisch. Für den guatemaltekischen Romancier Miguel Asturias (1899 – 1974, Nobelpreis 1967) bedeutete er die Synthese aus der „magischen“ Realität der Indigenen und dem europäischen, rationalen Wirklichkeitsverständnis. Der kolumbianische Dichter Gabriel García Márquez (1927 – 2014, Nobelpreis 1982) setzte sich für die soziopolitische und kulturelle Emanzipation der Menschen Lateinamerikas ein. In seinem Roman Hundert Jahre Einsamkeit (1967) wird das Leben von sechs Generationen der Familie Buendía aus dem Dorf Macondo im Lauf von 100 Jahren geschildert. Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit (1967) Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern, aus Lehm und Pfahlrohr am Ufer eines Flusses gebaut, dessen glasklares Wasser dahinschoss in einem Bett glatt polierter Steine, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Die Welt war so neu, dass viele Dinge noch keinen Namen hatten, und wer von ihnen sprechen wollte, musste mit dem Finger auf sie zeigen. Jahr für Jahr im Monat März schlug eine zerlumpte Familie von gitanos1 [Änderung des Hrsg.] ihr Zelt in Dorfnähe auf und kündigte unter großem Tamtam von Pfeifen und Trommeln die neuesten Erfindungen an. Zuerst brachten sie den Magneten mit. Ein stämmiger gitano [Änderung des Hrsg.] mit wildem Bart und den Krallen eines Sperlings stellte sich als Melquíades vor und schritt zur schauerlichen Vorführung dessen, was er als achtes Weltwunder der weisen Alchimisten aus Mazedonien anpries. Zwei Metallbarren hinter sich her schleifend, zog er von Haus zu Haus, und alle Welt verfiel in Angst und Schrecken, als Kessel, Bratpfannen, Zangen und Kohlebecken von ihrem Platz polterten, Nägel und Schrauben sich verzweifelt aus dem ächzenden Holz zu winden suchten, sogar Langvermisstes gerade dort auftauchte, wo man es am meisten gesucht hatte, und nun alles in wilder Auflösung hinter den magischen Eisen des Melquíades herrumpelte. „Die Dinge haben ein Eigenleben“, verkündete der gitano [Änderung des Hrsg.] mit hartem Akzent, „es geht nur darum, ihre Seele zu wecken.“ Jose Arcadio Buendía, dessen rabiate Einbildungskraft immer über den Scharfsinn der Natur hinausging, ja noch Wunder und Magie übertraf, meinte, man könne sich dieser nutzlosen Erfindung bedienen, um der Erde das Gold zu entreißen. Melquíades, der ein ehrlicher Mann war, warnte ihn: „Dafür taugt sie nicht.“ Doch Jose Arcadio Buendía glaubte zu jener Zeit nicht an die Ehrlichkeit der gitanos [Änderung des Hrsg.], also tauschte er sein Maultier und ein paar junge Ziegenböcke gegen die Magneteisen. Úrsula Inguarán, seine Frau, die damit rechnete, das kümmerliche Haushaltsbudget mit diesen Tieren aufzubessern, konnte es ihm nicht ausreden. „Bald haben wir Gold genug, um auch noch das Haus damit zu pflastern“, erwiderte ihr Mann. 1. Setzen Sie sich mit dieser Textstelle auseinander: • Fassen Sie den Text kurz zusammen. • Erläutern Sie, wie Jose Arcadio Buendía zu seinen Ansichten gelangt. • Kommentieren Sie, wie die Erzählfigur zu dem Geschehen steht. 2. Recherchieren Sie den Begriff „Magischer Realismus“ in Ihnen zugänglichen Quellen (online oder offline) und verfassen Sie eine Kurzdefinition für ein Literaturlexikon für Jugendliche. Magischer Realismus 5 1 gitano, gitanos (Pl.): weitgehend akzeptierter Begriff für (ursprünglich) spanische Roma 10 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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