Killinger Literaturkunde, Schulbuch

416 Samstag, 20. Juni 1942 Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an, ich habe Lust zu schreiben und will mir vor allem alles Mögliche gründlich von der Seele reden. Papier ist geduldiger als Menschen. Dieses Sprichwort fiel mir ein, als ich an einem meiner leichtmelancholischen Tage gelangweilt am Tisch saß, den Kopf auf den Händen, und vor Schlaffheit nicht wusste, ob ich weggehen oder lieber zu Hause bleiben sollte, und so schließlich sitzen blieb und weitergrübelte. In der Tat, Papier ist geduldig. Und weil ich nicht die Absicht habe, dieses kartonierte Heft mit dem hochtrabenden Namen „Tagebuch“ jemals jemanden lesen zu lassen, es sei denn, ich würde irgendwann in meinem Leben „den“ Freund oder „die“ Freundin finden, ist es auch egal. Nun bin ich bei dem Punkt angelangt, an dem die ganze Tagebuch-Idee angefangen hat: Ich habe keine Freundin. Um noch deutlicher zu sein, muss hier eine Erklärung folgen, denn niemand kann verstehen, dass ein Mädchen von dreizehn ganz allein auf der Welt steht. Das ist auch nicht wahr. Ich habe liebe Eltern und eine Schwester von sechzehn, ich habe, alle zusammengezählt, mindestens dreißig Bekannte oder was man so Freundinnen nennt. Ich habe einen Haufen Anbeter, die mir alles von den Augen ablesen und sogar, wenn‘s sein muss, in der Klasse versuchen, mit Hilfe eines zerbrochenen Taschenspiegels einen Schimmer von mir aufzufangen. Ich habe Verwandte und ein gutes Zuhause. Nein, es fehlt mir offensichtlich nichts, außer „die“ Freundin. Ich kann mit keinen von meinen Bekannten etwas anderes tun als Spaß machen, ich kann nur über alltägliche Dinge sprechen und werde nie intimer mit ihnen. Das ist der Haken. Vielleicht liegt dieser Mangel an Vertraulichkeit auch an mir. Jedenfalls ist es so, leider, und nicht zu ändern. Darum dieses Tagebuch. 1. Setzen Sie sich mit diesem Textausschnitt aus Anne Franks Tagebuch auseinander: • Fassen Sie die Aussage dieses Textes zusammen. • Erläutern Sie, welche Probleme Anne Frank im Zusammenhang mit ihrem Tagebuch beschreibt. • Erörtern Sie, inwieweit persönliches Schreiben für Sie eine Hilfe ist, über bestimmte Situationen, Krisen, Probleme zu reflektieren und mit ihnen besser umzugehen. Judith Kerr (1923 – 2019), die ebenso wie Anne Frank aus einer jüdischen Familie stammte, gelang 1933 die Flucht über die Schweiz und Frankreich nach England, wo sie zu einer sehr populären Kinder- und Jugendbuchautorin wurde. Ihre selbst illustrierten Geschichten um den Kater Mog sind beliebte Kinderbücher. Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (1971) Dieser ursprünglich auf Englisch erschienene Roman trägt autobiographische Züge und behandelt die Flucht ihrer Familie aus Deutschland aus der Sicht eines Kindes, ist jedoch im Gegensatz zum Text Anne Franks dezidiert von Anfang an als Roman geschrieben. 5 10 15 20 25 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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