KINDER- UND JUGENDLITERATUR 423 Neben dem kackebraunen Schultor, in einem flachen Glaskasten, an der lausgrauen Hausmauer, hingen vier Listen. 1A, 1B, 1C, 1D, mit Doppelpunkten dahinter, stand oben auf den Listen und darunter waren, in Schreibmaschinenschrift und je zwei langen Latten, die Namen der Schüler getippt. „Na, Engelchen, was ist?“, fragte die Mama. „Seid ihr alle zusammen, so wie es die Frau Hofrat versprochen hat? Oder ist etwas schief gegangen?“ Die Mama war ziemlich kurzsichtig und hatte ihre Brille nicht auf. Ohne Brille konnte sie bloß Buchstaben in Ladenschildgröße einwandfrei erkennen. „Idioten, die“, murmelte Susi. Sie stand, auf den Zehenspitzen, dicht vor dem Glaskasten. „Zwei Meter lang müsste man da ja sein, damit man das lesen könnte. Wissen die hier nicht, wie groß man mit zehn Jahren ist?“ „So klein bist du auch wieder nicht, Engelchen“, sagte die Mama und seufzte tief. „Musst nicht immer so übertreiben, bist ja kein Zwerg!“ „Ich übertreib nicht, ich muss hupfen, damit ich die Namen mit A sehen kann!“ Susi sprang um der Mama diesen empörenden Sachverhalt drastisch vor Augen zu führen wie ein Pingpongball vor dem Glaskasten auf und nieder. Ich habe es ja gleich gewusst, dachte sie. Ein mieser Verein hier! Wenn das schon so anfängt, dass sie ihre Wische so aufhängen, dass ein normal gewachsenes Kind bloß die Namen mit Z mühelos mitkriegt, dann wird das ja schön lausig weitergehen! Prost Mahlzeit! „Na, Engelchen?“, fragte die Mama wieder. Susi hörte zu hüpfen auf. Sie hatte zwar genau gesehen, dass ihr Name auf der 1C-Liste stand und dass auch die anderen Kinder aus ihrer Volksschulklasse, die sich in dieser Schule angemeldet hatten, auf der 1C-Liste waren, aber sie sagte mürrisch zur Mama: „Was weiß denn ich? Da müsste ich mir zuerst vom Schulwart eine Feuerwehrleiter holen!“ „Engelchen, für dich braucht man starke Nerven, ehrlich!“ Die Mama zog die rechte Augenbraue hoch und den linken Mundwinkel herunter. Das tat sie immer, wenn sie mit Susi sehr unzufrieden war. „Einen kinderfreundlichen Service haben die hier jedenfalls nicht.“ Susi tippte sich mit einem Zeigefinger gegen die Stirn. „In unserer Schule ist alles immer richtig aufgehängt gewesen. Unsere Frau Lehrerin hat nicht geglaubt, dass wir zwei Meter groß sind.“ „Sturer Bock“, murmelte die Mama. Sie holte die Brille aus der Handtasche, setzte sie auf und studierte eingehend den Aushang im Glaskasten. Dann nahm sie die Brille von der Nase, tat sie in die Handtasche zurück und sagte zufrieden: „Alles ist in Butter, alle seid ihr in der 1C! Die Gabi, die Ulli, der Martin, der Michi, die Verena. Und der Paul auch. Gratuliere!“ Susi drehte sich um und marschierte mit Gramgesicht die Straße hinunter. Die Mama seufzte wieder, diesmal übertrieben laut, und marschierte neben Susi her. „Das hält man ja im Kopf nicht aus, so was von spinnertem Kind“, keppelte sie auf Susi hinunter. „Ich hab geglaubt, du bist endlich vernünftig geworden.“ „Ich bin vernünftig“, keifte Susi zur Mama hinauf. „Einen Schmarrn bist vernünftig.“ Die Mama schüttelte den Kopf. „Dumm bist!“. „Wenn ich eh spinnert und dumm bin“, keifte Susi, “dann kann ich aber nicht ins Gymnasium gehen!” 5 10 15 20 25 30 35 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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