Killinger Literaturkunde, Schulbuch

428 Handlungsabläufe und Figurenkonstellationen leicht variiert wiederzuverwenden. Schließlich konnten Autorinnen und Autoren gar nicht mehr so viel schreiben, wie geschäftstüchtige Verleger ihnen abnötigten. Es begann eine Art industrieller Literaturproduktion, deren Merkmale die Normierung, die Serienanfertigung und die Arbeitsteilung waren. Der ungeheure Erfolg des Zeitungsromans und damit der Zeitungen konnte nur erzielt werden, weil man breite Bevölkerungsschichten als Leserinnen und Leser gewann. Die Voraussetzung dafür war, dass nun auch die weniger gebildete Bevölkerung lesen konnte. Was sie so faszinierte, waren die einander jagenden Abenteuer und Intrigen im Dschungel der Pariser Unterwelt, die Verbrechen und ihre blutige Sühnung, wobei schließlich das Gute über das Böse siegte. Der Zeitungsroman des 19. Jahrhunderts weist Merkmale auf, die dem Unterhaltungsroman bis heute geblieben sind: Er wendet sich an ein breites Publikum, das literarisch nicht vorgebildet ist. Denn nicht die literarische Qualität ist ausschlaggebend, sondern der Unterhaltungswert. Die klare Einteilung der Menschen in Schurken und Edle erleichtert die Parteinahme und gibt Gelegenheit, die eigenen Aggressionen und Wünsche mit zum Sieg führen zu lassen. Die Entwicklung verlief im deutschen Sprachraum ähnlich. Die Zeitschrift Die Gartenlaube (ab 1853) etwa brachte in Fortsetzungen Romane von Eugenie Marlitt (1825 – 1887) und später von Hedwig CourthsMahler (1867 – 1950). Eine Eigenheit der älteren deutschen Unterhaltungsromane, die mehr für Leserinnen der gehobenen Schichten geschrieben wurden, ist die Übersättigung mit sentimentalen Gefühlen. Hedwig Courths-Mahler: Die schöne Unbekannte (1918) Und jetzt erblickte der eine der Herren dort oben auf dem Balkon die reizende Gaby von Rosen, deren liebliches Gesicht selbst wie eine Rose blühte, und deren tiefblaue Augen wie glücksuchend auf das frohe Treiben zu ihren Füßen niederblickten. Im selben Moment tauchten die beiden jungen Augenpaare ineinander und blieben gebannt eine Weile aneinander hängen. Ein Aufleuchten im Antlitz des jungen Mannes bewies sein Entzücken über die reizende Erscheinung. Dann griff er in den Blumenkorb neben ihm. Seine Gestalt reckte sich, und sicher gezielt flog ein Rosenstrauß der jungen Dame an die Brust. Sie fasste danach wie im Traum und konnte ihre Augen nicht von den seinen lösen, obwohl sie unter seinen Blicken erglühte. 3. Untersuchen Sie diesen Textausschnitt hinsichtlich der stilistischen Mittel: • Nennen Sie die Mittel, die die Autorin einsetzt. • Analysieren Sie, was sie damit erreicht. Die trivialen Liebes- und Heimatromane des 19. Jahrhunderts haben ihre Nachkommen in den Heftchenromanen unserer Zeit. Petra Röder: Ihr schönster Sommertraum (o. J.) Behutsam, um nicht durch eine heftige Bewegung ihrem verletzten Fuß wehzutun, zog er sie an sich, streichelte sie und drückte sein Gesicht in ihr duftendes blondes Haar. Er küsste sie andächtig und beschrieb mit dem Finger sanfte Kurven in ihrem Gesicht, dem schönen Schwung des Mundes, der geraden Linie der Nase und dem aparten Schnitt der Augen folgend. „Oh, Liebling, dass ich dich küssen darf! Dass so etwas Schönes mir gehört!“, flüsterte er selig. 5 10 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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