Killinger Literaturkunde, Schulbuch

UNTERHALTUNGS- UND TRIVIALLITERATUR 433 dass sie sich so benehmen, weil so kann man die Kinder wenigstens noch von den Erwachsenen unterscheiden. Früher war es mehr die Größe, da hat man gesagt, ein Kleiner ist ein Kind und ein Großer ist ein Großer. Aber heute wachsen die Kinder ja so schnell, dass du von der Größe her keinen Anhaltspunkt mehr hast, ist es jetzt der Primar, der da so sportlich aus der Säuglingsstation herausspaziert, oder ist es der Neugeborene selber. Und da ist es eben umgekehrt wie früher, und Faustregel: Der weniger Arrogante ist der Primar. [...] Überhaupt war der Herr Simon sehr zufrieden mit seinem neuen Leben, weil nicht immer Chauffeur gewesen, sprich verschiedene Berufe ausprobiert, aber über fünfzig hat er werden müssen, damit er seine Sache findet. Wo andere schon an Pension und Rente denken, hat der Herr Simon erst ein richtig gutes Berufsleben angefangen. Einmal die fünf Stunden von Wien nach München, dann wieder die fünf Stunden von München nach Wien, manchmal auch mit der Mutter, selten einmal mit dem Vater, aber immer mit dem freundlichen Kind, das ihn so gut verstanden hat. Das hat ihm so getaugt, das kann sich ein anderer, der nicht so zum Chauffeur geboren ist, gar nicht vorstellen. […] 8. Untersuchen Sie diesen Ausschnitt aus dem Roman von Wolf Haas: • Besprechen Sie anhand konkreter Beispiele die Ausdrucksweise des Erzahlers und die Wirkung, die damit erzielt wird. • Erläutern Sie, was ein Werk wie dieses von einem Trivialroman unterscheidet. Besonders interessant erscheint der lockere, an mündliche Sprache angelehnte Stil, der ein vertrautes Naheverhältnis zum Lesepublikum entstehen lässt. Die folgende Stelle aus einem seiner Brenner-Romane illustriert diese Vorgangsweise. Wolf Haas: Müll (2022) Vorigen Sommer bin ich einmal am See unten gesessen, die kleine Bucht da gleich neben der Straße, wo nie Leute sind, weil es so viele Glasscherben anschwemmt. Nur ein Vater mit einem kleinen Kind war noch da, so ein vierjähriges Mädchen dürfte das gewesen sein. Auf einmal hör ich sie fragen, warum da so viele Perlen auf dem Boden liegen. Weil keine scharfen Glasscherben, sondern schön vom Wasser abgeschliffen. Weiße und grüne Perlen zwischen den Kieselsteinen und auch ein paar braune, sprich goldene Perlen. Jetzt was sagst du als Vater auf so eine Frage, du kannst nicht gut die Wahrheit sagen, das verstehe ich schon. Er hat ihr erzählt, die Perlen gehören einer Prinzessin, die am Seegrund unten in einem Palast wohnt, und die hat so viel Schmuck, dass sie die Schatullen nicht mehr zubringt. Im Prinzip bin ich dagegen, dass man den Kindern solche Geschichten auftischt. Aber was soll ich machen? Ich kann nicht gut hinübergehen und dem Mädchen die Wahrheit sagen. Weil furchtbare Geschichte, da kannst du als Kind einen lebenslangen Schock davontragen, frage nicht. Aber dir kann ich es ja schnell erzählen. 15 20 25 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==