56 Monolog und Dialog Das griechische Drama verfügte neben dem chorischen Sprechen über die auch heute üblichen sprachlichen Ausdrucksmittel Dialog und Monolog. In Medea stellt Euripides (480 – 406 v. Chr.) den inneren Kampf der Titelheldin zwischen ihrer maßlosen Rachgier und ihrer Mutterliebe dar, der den Höhepunkt des ganzen Dramas bildet: Medea überlegt, sich an dem ihr untreu gewordenen Gatten Jason zu rächen, indem sie ihre gemeinsamen Söhne umbringt. Euripides: Medea (431 v. Chr.) MEDEA. O Kinder, liebe Kinder, ihr habt Haus und Stadt, Worin ihr wohnen werdet, mich Unglückliche Verlassend, eurer Mutter allezeit beraubt! Ich aber wandre flüchtig aus in fremdes Land, Bevor ich froh ward euer und euch glücklich sah, Bevor ich Hochzeitslager und die junge Braut Euch schmückte, Hochzeitsfackeln trug an eurem Fest. Weh, dass ich doch so starren, trotz’gen Sinnes war! Umsonst, ihr Kinder, hab ich aufgezogen euch, Umsonst geduldet, mich in Mühen abgehärmt Und herbe Qual ertragen, als ich euch gebar! Wohl trug ich Jammervolle mich mit Hoffnungen Gar oft, im Alter würdet ihr mich pflegen einst, Mich wohl bestatten, wenn ich abgeschieden bin. Beneidenswertes Menschenlos! Nun ist sie hin, Die süße Sorgfalt, euer werd ich nun beraubt Und leb ein qualvoll Leben, mir zur Trauer nur. Ihr werdet eure Mutter nie mit Augen mehr Erblicken, in ein andres Leben gehet ihr. Ach, ach! Warum, ihr Kinder, blickt ihr mich so an? Was lächelt ihr mit eurem letzten Lächeln mir? Weh, was beginn ich? Kraft und Mut entschwanden mir, Als ich, ihr Fraun, der Kinder heitres Auge sah. Nein, nein, ich kann nicht! Fahre wohl, mein voriger Entschluss! Die Kinder führ ich aus dem Lande weg. Was brauch ich, dass ihr Vater um ihr trübes Los Sich härme, zwiefach bittres Leid mir anzutun? Nein, nimmermehr! Fahrt hin, Entschlüsse, fahret hin! Was aber tu ich? Soll man mich verlachen, dass An meinen Feinden ich nicht grause Rache nahm? Es muss gewagt sein! Weh, dass ich so feig jetzt bin, Den weichen Stimmen Raum zu leihn in meiner Brust! Geht, Kinder, geht ins Haus hinein! Wem’s nicht geziemt, Dem Opfer beizuwohnen, der entferne sich! Nicht durch ein feig Erbarmen schänd ich meine Hand. Ach, ach! Nein, nein, o Seele, denke dies Verwegne nicht! 5 10 15 20 25 30 35 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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