Killinger Literaturkunde, Schulbuch

60 SPRACHE UND LEHRE VON DER DICHTKUNST Die Entwicklung der gemeindeutschen Sprache war noch nicht abgeschlossen. Die Druckereien der verschiedenen Landschaften hatten ihre eigenen Schreibgewohnheiten, die aus der Mundart zu erklären sind. Die Rechtschreibung war im 17. Jahrhundert noch nicht einheitlich geregelt. Ein weiteres Problem war die Überlagerung des Deutschen durch das Französische, das als Leitkultur anerkannt wurde. In vielen Städten bildeten sich Sprachgesellschaften, die sich zur Aufgabe gesetzt hatten, die Sprache von Fremdwörtern zu reinigen, deutsche Wörter dafür anzubieten und die Literatur zu pflegen. Für die Dichtung im Barock brauchte man neben der sprachlichen Begabung gründliches Wissen über die Formen und Ausdrucksweisen, über die darzustellenden Themen und deren Aufbau, über die Metrik (Verslehre) und die Stilmittel der Rhetorik (Redekunst). Dieses Wissen entschied über die Qualität des Textes und wurde in zahlreichen Lehrbüchern der Dichtkunst (Poetiken) vermittelt. Das erste und einflussreichste derartige Lehrbuch stammt von Martin Opitz (1597 – 1639): Buch von der Deutschen Poeterey, 1624. Die Lehrsätze von Martin Opitz galten ein Jahrhundert lang im deutschen Raum als verbindlich. Opitz verdeutlichte seine Regeln an eigenen Versen und an Übersetzungen, besonders aus dem Lateinischen und Französischen. Er wollte aber nicht nur ein Lehrmeister der Poetik sein; er wollte auch nachweisen, dass sich die deutsche Sprache ebenso gut wie die lateinische und die französische als Sprache hoher Dichtung eigne, nicht bloß als Verständigungsmittel des ungebildeten Volkes. Er wollte dazu beitragen, dass eine auch von anderen Nationen anerkannte deutsche Poesie entsteht. Tatsächlich gab es damals kein einziges Werk in neuhochdeutscher Sprache, das man in seiner Bedeutung mit ausländischen Werken hätte vergleichen können, etwa mit Dantes Commedia, mit dem Don Quijote1 von Cervantes, mit den Dramen Shakespeares oder den Komödien Molières. Der deutsche Sprachraum musste literarisch arm und zurückgeblieben wirken. Bei den Vorschriften für das Drama folgte Opitz älteren Auffassungen und führte die so genannte Ständeklausel ein: In der Tragödie dürfen nur Heldenfiguren, Könige und Fürsten vorkommen. Sie sprechen eine hohe Sprache und weisen die nötige „Fallhöhe“ auf. Nur durch den tiefen Fall eines Hochgestellten könne das Publikum erschüttert werden. „Gemeine“ Leute mit ihrer einfachen Sprache und ihren alltäglichen Geschäften dürfen nur in der Komödie als Hauptfiguren vorkommen. Diese Auffassungen herrschten bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sie vom „bürgerlichen Trauerspiel“ abgelöst wurden. Opitz formulierte auch das Akzentgesetz, mit dem die antike, auf dem Wechsel von langen und kurzen Silben beruhende Metrik abgelöst wurde. Er stellte fest, dass in der deutschen Sprache der Wortakzent, d. h. Hebungen und Senkungen für den Vers entscheidend sind. Es wurde in der Tradition der antiken Dichtkunst und der neulateinischen Dichtung des Humanismus gedichtet. Man fühlt sich obendrein an die Vorschriften poetischer Lehrbücher gebunden. Das Dichten gilt als erlernbar und wird zur Kunstübung gelehrter Menschen. So ist verständlich, dass sie in der Regel nicht aus einem starken Erlebnis, aus einem überströmenden Gefühl heraus schreiben. Vielmehr behandeln sie kunstvoll und mit viel Überlegung Themen, die allgemein als poetische Themen gelten. Nicht auf das Was, sondern auf das Wie kommt es an. Nichts wird schmucklos und direkt hingesetzt; denn dichterische Sprache muss sich durch poetische Gestaltung von der Ausdrucksweise im Alltag unterscheiden. Alle Register eines umfangreichen Stilinstrumentariums werden gezogen, um dem sprachlichen Ausdruck Glanz und Würde zu verleihen. So wird eine feierliche, ja pathetische Wirkung erzeugt. Pflege der deutschen Sprache Lehrbuch der Dichtkunst 1 Don Quijote: sprich: ki’cho:te Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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