Killinger Literaturkunde, Schulbuch

80 AUFKLÄRUNG ETWA 1700 BIS 1770 BEFREIUNG AUS DER UNMÜNDIGKEIT Das Zeitalter der Aufklärung wird heute als Beginn der neueren Zeit angesehen. Zwei Strömungen haben die Aufklärung hauptsächlich vorbereitet: der Rationalismus und der Empirismus. Der Rationalismus (lat. ratio = Vernunft, Verstand) hatte seine Geburtsstätte in Frankreich. Sein Begründer war der Mathematiker und Philosoph René Descartes (1596 – 1650). Er ging davon aus, das überlieferte Wissen nicht einfach hinzunehmen, sondern alles, was er von anderen gelernt hatte, in Zweifel zu ziehen. Dabei fand er heraus, dass zunächst nur eine einzige Erkenntnis unbezweifelbar und daher wahr sei, der Satz: „Ich denke, also bin ich“ (= also bin ich als denkendes Wesen vorhanden). Und er folgerte: Alles, was vom Verstand ebenso klar und deutlich erkannt werden kann wie dieser Satz, ist wahr. Damit war die Ratio, der menschliche Verstand, zur einzigen Erkenntnisquelle, zum Maßstab für wahr und nicht wahr, für richtig und nicht richtig geworden. Durch bloßes Denken, durch logisches Verknüpfen und Folgern kann der Mensch zur Erkenntnis Gottes und der Gesetzmäßigkeiten in der Natur – zur Wahrheit – vordringen. Die Heimat des Empirismus (Empirie = Erfahrung) ist England, wo als Erster John Locke (1632 – 1704) die Beobachtung zur Grundlage wissenschaftlicher Aussagen machte. Denn – so behauptete er – menschliche Erfahrung, nachprüfbares Wissen, bilde sich allein aus den Wahrnehmungen unserer Sinne, aus der Beobachtung. „Es ist nichts in unserem Verstand als das, was wir vorher mit unseren Sinnen wahrgenommen haben“, heißt es bei dem englischen Philosophen David Hume (1711 – 1776). Die Beobachtung war die Methode der Erkenntnisgewinnung und nicht überlieferte Lehrsätze geheiligter Autoritäten: Damit war der Weg für eine moderne Naturwissenschaft gebahnt. Als die fortschrittlich gesinnten Köpfe des frühen 18. Jahrhunderts für die neue Geistesbewegung einen Namen suchten, der auch von Nichtgebildeten verstanden werden konnte, bot sich ihnen das Verb „aufklären“ als Vergleichswort an: Wie das Licht der Sonne die Dunkelheit vertreibt und alles deutlich erkennbar macht, „aufklärt“, so sollte das helle Licht der Vernunft die Finsternis des Aberglaubens, der blinden Untertänigkeit, der Unduldsamkeit und dumpfen Triebhaftigkeit besiegen. Um die Mitte des Jahrhunderts war der damals neu gebildete Begriff „Aufklärung“ bereits zum Schlagwort geworden. Die Aufklärung war eine geistige Bewegung, die vom städtischen Bürgertum getragen wurde und beinahe ganz Europa erfasste. Ihr oberstes Ziel war die Verbreitung von Bildung und die Erziehung des Menschen zu einer freien, von der Vernunft geleiteten Persönlichkeit. So begründete die Aufklärung eine Vernunftkultur, ja einen Kult der Vernunft. Man hielt die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes für grenzenlos und glaubte an den ständigen Fortschritt der Vernunfterkenntnis bis zur höchsten Vollkommenheit. Ratio als Erkenntnisquelle Erfahrung als Erkenntnisquelle Begriff: Aufklärung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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