Killinger Literaturkunde, Schulbuch

AUFKLÄRUNG | 1700 – 1770 93 Lessings Gedanken zum neuen deutschen Drama Gottsched hielt in seiner Reform der Tragödie an der Ständeklausel, wie sie schon Opitz (1624) formuliert hatte, fest: Nur Personen höchsten Standes durften in der Tragödie auftreten, weil allein sie die nötige „tragische Fallhöhe“ aufweisen und das Interesse des Publikums wecken können (vgl. S. 60). Lessing stellt sein bürgerliches Theater dagegen: Er lässt die Tragik aus einer allgemein menschlichen Konfliktsituation entstehen. Er spielt die Wahrheit in der Charakterzeichnung und die Erschütterung des Publikums gegen das höfische Repräsentationstheater aus. So begründet Lessing ein deutsches bürgerliches Trauerspiel. Seine Heldinnen und Helden sollten „vom gleichen Schrot und Korn“ sein wie die Zuschauerinnen und Zuschauer. Seine Leitbilder sind nicht die französischen Klassiker Corneille und Racine, sondern die antiken Dramatiker wie Aischylos, Sophokles und Euripides sowie Shakespeare. Er bewundert das Genie des Engländers, sein Naturtalent, seine Treffsicherheit in der psychologischen Charakterzeichnung. In den Briefen, die neueste Literatur betreffend (1759 – 1765) wendet sich Lessing mit scharfen Worten gegen Gottsched und das von ihm als musterhaft erklärte französische Theater. Lessing weist darauf hin, dass das englische Theater der deutschen Dramatik viel stärkere Impulse zu geben vermöge: Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759 – 1765) „Niemand“, sagen die Verfasser der Bibliothek1, „wird leugnen, dass die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.“ Ich bin dieser Niemand; ich leugne es geradezu. Es wäre zu wünschen, dass sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten oder sind wahre Verschlimmerungen. Als die Neuberin2 blühte und so mancher den Beruf fühlte, sich um sie und die Bühne verdient zu machen, sah es freilich mit unserer dramatischen Poesie sehr elend aus. [...] Unsere Staats- und Heldenaktionen waren voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsere Lustspiele bestanden in Verkleidungen und Zaubereien; und Prügel waren die witzigsten Einfälle derselben. Dieses Verderbnis einzusehen, brauchte man eben nicht der feinste und größte Geist zu sein. Auch war Herr Gottsched nicht der Erste, der es einsah; er war nur der Erste, der sich Kräfte genug zutraute, ihm abzuhelfen. Und wie ging er damit zu Werke? Er verstand ein wenig Französisch und fing an zu übersetzen; [...] er verfertigte, wie ein schweizerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere seinen Cato3; [...] er legte seinen Fluch auf das Extemporieren4; er ließ den Harlekin feierlich vom Theater vertreiben, [...] kurz, er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines französierenden; ohne zu untersuchen, ob dieses französische Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei oder nicht [...] 12. Besprechen Sie anhand von Zitaten aus dem Text, – in welcher Form Lessing an Gottsched Kritik äußert, – wie Lessing die Situation vor Gottscheds Reformen beurteilt. Aufhebung der Ständeklausel 1 Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste, 1757/58 herausgegebene Zeitschrift von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn 2 Neuberin: siehe S. 84 3 Der sterbende Cato, regelmäßiges Trauerspiel von Gottsched, als Musterdrama gedacht (vgl. S. 84) 4 extemporieren: aus dem Stegreif sprechen 5 10 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==