Zeitbilder 6, Schulbuch

Die Sozialdemokratische Partei Nach der gescheiterten Revolution von 1848 war es Arbeiterinnen und Arbeitern verboten, sich zusammenzuschließen. Erst das liberale Vereins- und Versammlungsgesetz des Jahres 1867 ermöglichte die Gründung von Arbeiterbildungsvereinen. Diese beschäftigten sich bald mit gesellschaftspolitischen Fragen. Politische und gewerkschaftliche Tätigkeit war den Arbeiterinnen und Arbeitern aber weiterhin untersagt. Die sozialdemokratische Bewegung war in sich gespalten: Der gemäßigte Flügel wollte die Mitsprache im Staat über das allgemeine Wahlrecht erlangen. Die radikalen Anhänger von Karl Marx hingegen waren international eingestellt und strebten die Macht im Staat für die Arbeiterschaft über eine Revolution an. Dem Arzt Victor Adler gelang es schließlich, die beiden Flügel auf dem Parteitag in Hainfeld (Niederösterreich) an der Jahreswende 1888/89 zu einigen. Hier wurde eine erste gemeinsame politische Grundsatzerklärung der SDAPÖ (= Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs), das „Hainfelder Programm“, beschlossen: QDie Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich erstrebt für das gesamte Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechts die Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Abhängigkeit, die Beseitigung der politischen Rechtlosigkeit und die Erhebung aus der geistigen Verkümmerung. Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist daher das eigentliche Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, zu dessen Durchführung sie sich aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mittel bedienen wird. Übrigens wird und muss sich die Partei in ihrer Taktik auch jeweils nach den Verhältnissen, insbesondere nach dem Verhalten der Gegner, richten. Es werden jedoch folgende allgemeine Grundsätze aufgestellt: 1. Die SDAPÖ ist eine internationale Partei, sie verurteilt die Vorrechte der Nationen ebenso wie die der Geburt, des Besitzes und der Abstammung und erklärt, dass der Kampf gegen die Ausbeutung international sein muss, wie die Ausbeutung selbst. 2. Zur Verbreitung der sozialistischen Ideen wird sie alle Mittel der Öffentlichkeit, Presse, Vereine, Versammlungen voll ausnützen und für die Beseitigung aller Fesseln der freien Meinungsäußerung, Ausnahmegesetze, Presse , Vereins und Versammlungsgesetze eintreten. 3. Ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen, wird sie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Vertretungskörper mit Diätenbezug anstreben. 4. Soll noch innerhalb des Rahmens der heutigen Wirtschaftsordnung das Sinken der Lebenshaltung der Arbeiterklasse, ihre wachsende Verelendung einigermaßen gehemmt werden, so muss eine lückenlose und ehrliche Arbeiterschutzgesetzgebung (Beschränkung der Arbeitszeit, Aufhebung der Kinderarbeit usw.), deren Durchführung unter Mitkontrolle der Arbeiterschaft sowie die ungehinderte Organisation der Arbeiter in Fachvereinen, somit volle Koalitionsfreiheit angestrebt werden. 5. Im Interesse der Arbeiterklasse ist der obligatorische, unentgeltliche und konfessionslose Unterricht in den Volks und Fortbildungsschulen sowie unentgeltliche Zugänglichkeit sämtlicher höheren Lehranstalten unbedingt erforderlich; die notwendige Vorbedingung dazu ist die Trennung der Kirche vom Staat und die Erklärung der Religion als Privatsache. (Aus der Ausstellung „Die ersten 100 Jahre“; gekürzt) Arbeite heraus, welche Anliegen den Sozialdemokraten besonders wichtig sind. Erkläre, in welchem Punkt liberales Gedankengut (Victor Adler war ursprünglich Liberaler) weiterwirkt. Erläutere, welche Forderungen für die damalige Zeit radikal, welche gemäßigt erscheinen. Nach Hainfeld wollten die Sozialdemokraten zunächst die Industriearbeiter zu einer politisch selbstbewussten Klasse machen. Schon vor der Jahrhundertwende aber entwickelte sich die Sozialdemokratische Partei allmählich zu einer Massenbewegung. Victor Adler (1852–1918) wurde in Prag als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Er besuchte das Wiener Schottengymnasium, studierte anschließend Medizin und ließ sich in Wien als Armenarzt nieder. Adler war ursprünglich deutschnational eingestellt, schloss sich aber bald wegen der antisemitischen Tendenzen bei den Großdeutschen der Arbeiterbewegung an. Adler trat für eine gründliche Reform der Monarchie ein. (Ansichtskarte um 1910) Österreich vom Aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Monarchie 171 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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