Zeitbilder 6, Schulbuch

In der zünftisch organisierten Welt der Handwerker im späten Mittelalter war die Lage der Gesellen und der Lehrlinge oft von drückender sozialer Härte. Die Gesellen waren gezwungen zu wandern, sie durften weder heiraten noch eine Familie gründen. Sie hatten kaum Aufstiegschancen und waren meist völlig vom Haushalt des Meisters abhängig. Noch schlechter war in vielen Fällen die Situation der Lehrlinge. Ihr Alltag war immer wieder auch von brutalen Schlägen und schlechten Mahlzeiten bestimmt. Der Übergang zur Manufaktur Die Übergänge von der zünftisch geregelten handwerklichen Arbeit zu den Manufakturen im 17. Jh. waren fließend. So waren z.B. zwischen 25% und 60% der Arbeitskräfte in den Manufakturen Gesellen oder auch Handwerksmeister. Sie nahmen als gelernte Arbeitskräfte in diesen Betrieben eine Schlüsselstellung ein. Vor allem in der aufkommenden Web- und Spinnindustrie wurden viele Frauen und auch Kinder beschäftigt – einem Weber mussten 8 bis 12 Spinnerinnen zuarbeiten. Diese Arbeiten wurden meist zu Hause – als Nebenerwerb – von Inleuten, Kleinhäuslern oder auch Kleinbauern und deren Frauen und Kindern verrichtet. Maschinen kommen zum Einsatz Um die Wende vom 18. zum 19. Jh. gelangten in den Betrieben immer mehr Maschinen zum Einsatz. Die Kleinbauern, Inleute und Kleinhäusler verloren ihre Nebenerwerbsmöglichkeiten. Viele wurden in den Ruin getrieben. Das Landproletariat nahm zur damaligen Zeit enorm zu. Nach der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung traf die wirtschaftliche Entwicklung die Industriearbeiter. Bei Absatzstockungen wurden sie sofort entlassen. Weitere Rationalisierung der Arbeit durch den vermehrten Einsatz von Maschinen in den Fabriken verringerte nicht nur die Zahl der Arbeitskräfte. Sie drückte auch die Löhne, weil mehr Menschen um weniger Arbeitsplätze konkurrieren mussten. Das führte dazu, dass Aufstände drohten. QNoch schweigt das Volk bei seinem Schmerze / Und kennt nicht seine eigene Macht, […] / Doch and’re Zeiten seh’ ich tagen. / Von tausenden Lippen schmal und bleich / Hör’ ich die wilden düst’ren Fragen: / Wie lang der Spalt von Arm und Reich? (Meisner, Gedichte, S. 242, zit. nach: Rumpler, 1997, S. 258) Der Einsatz von Maschinen machte die Erzeugung von vielen Produkten billiger. Das trieb auch zahllose Gewerbetreibende in den Ruin. Das einströmende ländliche Proletariat übervölkerte nun die Städte. Dort herrschten bald katastrophale Zustände. Die Arbeiterschaft wohnt im Elend Mit dem explosionsartigen Wachstum der Städte wuchs dort auch die Wohnungsnot. Häufig wurden in unmittelbarer Fabriksnähe Holzbaracken errichtet, in welchen die Arbeiter eng zusammengepfercht Unterschlupf fanden. Die meisten Arbeiterfamilien mussten froh sein, wenn sie nur ein Dach über dem Kopf bekommen konnten – ob in alten verfallenen Häusern, in Kellern oder Dachböden. Die Wohnungsknappheit verursachte ein übermäßiges Ansteigen der Mietzinse, die oft bis zu drei Viertel des Lohns ausmachen konnten. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter waren nur „Bettgeher“. Sie zahlten dafür, dass sie in einem Bett schlafen konnten, welches zusätzlich in der Wohnung aufgestellt wurde. Diese Bettgeher teilten ihre Schlafstelle häufig mit einem zweiten; gewechselt wurde sie wie in der Fabrik im Schichtbetrieb. Erst um die Jahrhundertwende wurde das massenhafte Wohnungselend von kritischen Politikern und in Zeitungen öffentlich angeprangert. Fasse die in diesem Abschnitt dargestellten Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse zusammen und vergleiche sie mit jenen des Bürgertums. Skizziere mögliche Probleme, welche sich aus solchen Wohnverhältnissen ergeben können. Vergleiche dir bekannte Wohnverhältnisse mit jenen, die in diesem Kapitel dargestellt werden. Allmähliche Besserung Die Kontrolle der Arbeitsbedingungen, die Schutzvorkehrungen gegen Unfälle in den Fabriken sowie die Einführung von Unfall- und Krankenversicherung für Arbeiter (1887 und 1888) verbesserten die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter allmählich. Nun erhielten sie ihre Löhne in Geld ausbezahlt und waren nicht mehr gezwungen, für einen großen Teil des Lohnes von den Fabrikinhabern Nahrungsmittel in den Kantinen zu überhöhten Preisen einzukaufen. Die Maximalarbeitszeit durfte 11 Stunden pro Tag (bei 6 Arbeitstagen) nicht mehr überschreiten. Wöchnerinnen erhielten eine Schonfrist von 4 Wochen nach der Niederkunft. Man erkannte nämlich, dass verbesserte Arbeitsbedingungen die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmerinnen und -nehmer förderten. Allerdings erreichten diese sozialrechtlichen Verbesserungen Land- und Forstarbeiterinnen und -arbeiter, Tagelöhnerinnen und Tagelöhner und Dienstboten nicht. Fragen und Arbeitsaufträge 1. In jeder Gesellschaft gibt es die Tendenz, Außenseiterinnen und Außenseiter zu definieren und auszugrenzen. Zeige auf, welche Randgruppen es heute gibt. 2. Rollenspiel: Versetzt euch in die Lage einer Person aus einer bestimmten Bevölkerungsschicht des 18. oder 19. Jh. Recherchiert dazu die Lebensumstände (mit Hilfe von Biografien, Bildern, historischen Lexika, Internet etc.). Schlüpft in eure Rolle und diskutiert, ob ihr etwas (und was) an der gegenwärtigen Gesellschaft grundsätzlich ändern wollt. Nehmt dabei auch Stellung zum Ausdruck „die gute alte Zeit.“ Längsschnitt: Gesellschaften im Wandel 61 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MTA2NTcyMQ==