Zeitbilder 7, Schulbuch

Neben den Fluchtbewegungen spielte die Arbeitsmigration für die Zuwanderung nach Österreich eine bedeutende Rolle. Ab Mitte der 1960er und in den frühen 1970ern herrschte Hochkonjunktur. Wirtschaft und Staat waren am Zuzug von ausländischen Arbeitskräften interessiert (Arbeitszuwanderung). Viele dieser Menschen haben sich in der Folge mit ihren Familien dauerhaft in Österreich niedergelassen. Das war hier, wie in vielen anderen europäischen Staaten, zunächst nicht vorgesehen: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“ (Max Frisch, 1965). Die Zahl der Einwanderungswilligen lag in jenen Jahren bis 1987 bei etwa 20.000 Personen jährlich. Dementsprechend stieg auch der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer von etwa 4 Prozent (1974) auf über 8 Prozent in den 1990er Jahren an. Mit der EU-Osterweiterung (2004) wurde Österreich endgültig zum Einwanderungsland für Arbeitskräfte aus den EU-Staaten, vor allem aus Deutschland. Aber auch von Österreich wanderten Arbeitskräfte vor allem nach Deutschland und in die Schweiz aus: In den 1970er Jahren waren dort etwa 120.000 beschäftigt. Gegenwärtig pendeln Tausende – v.a. aus Vorarlberg – von Österreich zur Arbeit in die Schweiz, nach Deutschland oder Liechtenstein aus. „Das Boot ist voll“ – ist das Boot voll? So tönte es Anfang der 1990er Jahre durch ganz Europa. Man war auf die massenhaften Fluchtbewegungen aus Ost- und Südosteuropa nicht vorbereitet. Verständnislosigkeit und Ablehnung machten sich bemerkbar. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit führte zu verstärkten Vorbehalten und sogar zu Gegnerschaft in der Bevölkerung gegenüber ausländischen Arbeitskräften und Flüchtlingen. Diese Situation griff die FPÖ auf: Sie brachte 1993 ein Volksbegehren mit dem Namen „Österreich zuerst“ ein. Darin wurde eine strengere Politik gegenüber Ausländerinnen und Ausländern verlangt. Die Forderung wurde mit „Sicherheits“-Bedürfnissen der Österreicherinnen und Österreicher, aber auch der im Land lebenden Ausländerinnen und Ausländer (als Asylwerberin oder Asylwerber bzw. als Gastarbeiterin oder Gastarbeiter) begründet. Die übrigen Parteien und die Kirchen nahmen in breiter Front gegen dieses Volksbegehren Stellung. Der damalige Caritas-Präsident Schüller, ein in Ausländerfragen anerkannter Experte, verwies auf die Diskussionswürdigkeit mancher Forderungen des Volksbegehrens. Das betraf etwa die Entspannung der Schulsituation für fremdsprachige Kinder oder eine wirkungsvollere Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Das Volksbegehren wurde 1993 schließlich von 416 531 Österreicherinnen und Österreichern unterschrieben. Gegen das Volksbegehren fanden in vielen Städten zahlreiche Aktionen statt. Den Höhepunkt bildete das „Lichtermeer“ in der Wiener Innenstadt. An dieser bis dahin größten Demonstration in der Zweiten Republik nahmen mehr als 200 000 Menschen teil und warben für mehr Mitmenschlichkeit und gegen Ausländerfeindlichkeit. Begriffsklärung Die Begriffe „Migration“, „Flucht“ und „Asyl“ werden oft ungenau gebraucht. Verlassen Personen aus wirtschaftlichen oder familiären Gründen ihr Land, bezeichnet man das als „Wirtschafts- bzw. Arbeits-Migration“. „Flüchtlinge“ sind Personen, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung aus dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, vor (möglicher) Verfolgung fliehen. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bzw. 1967 haben sie ein Anrecht auf Asyl. Asyl ist ein Menschenrecht. Um zu entscheiden, ob jemandem Asyl gewährt wird, gibt es in Österreich Asylverfahren. Wird in einem Verfahren positiv über einen Asylantrag entschieden, gilt die Person als „anerkannter Flüchtling“ oder „asylberechtigt“. Eine solche Person genießt weitgehend die gleichen Rechte auf Arbeit und soziale Sicherheit wie eine Person mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Flucht und Arbeitsmigration – ein Rückblick Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fanden rund 350000 Flüchtlinge und Vertriebene in Österreich bleibende Aufnahme. 1956 flüchteten bis zu 200 000 Menschen aus Ungarn, etwa 20000 von ihnen blieben dauerhaft (vgl. S. 98). Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings (1968) kamen rund 162 000 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei, und 1981 flüchteten 35 000 Menschen aus Polen nach Österreich. Mehrere Tausend von ihnen blieben. Eine weitere Gruppe von Migrantinnen und Migranten waren jüdische Flüchtlinge aus der Sowjetunion. Für viele dieser rund 250 000 Menschen diente Wien zwischen 1973 und 1989 als Drehscheibe für ihre Weiterreise in die USA oder nach Israel. Massenhafte Fluchtbewegungen folgten wieder Anfang der 1990er Jahre: Aufgrund der Kriege und „ethnischen Säuberungen“ im zerfallenden Jugoslawien (Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo) flüchteten Hunderttausende Menschen aus diesen Balkanländern nach Westeuropa (vgl. S. 100 f.). L Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge verließ Österreich wieder. Von den bosnischen Flüchtlingen blieb mit 65.000 eine größere Anzahl im Land. Nach der Dokumentation des Wiener Büros der UNHCR (UNO-Organisation, die sich für Flüchtlinge einsetzt) wurden im Zeitraum 1945 – 1995 rund zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Rund 650.000 Flüchtlinge blieben im Land, davon immerhin etwa 300.000 Personen mit nichtdeutscher Muttersprache. Bezogen auf die Einwohnerzahl reihte sich Österreich hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen mit Schweden, der Schweiz und Deutschland in die Gruppe der großen Aufnahmeländer. (Weigl, Migration und Integration. Eine widersprüchliche Geschichte, 2009, S. 33 f.) Politische und soziale Welten nach 1945 157 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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