Mathematik verstehen 7, Schulbuch

170 8 eXakt i f i z ierUng der Di fferent ialrechnUng Im 19. Jahrhundert waren die Methoden der Differentialrechnung im Großen und Ganzen entwickelt. Die Begründungen waren jedoch mangelhaft, weshalb man sich verstärkt einer exakteren Grundlegung der Differentialrechnung zuwandte. Ein Charakteristikum war dabei, dass man sich von der geometrischen Anschauung lösen und die Begriffe der Differentialrechnung allein auf der Grundlage der reellen Zahlen aufbauen wollte. Grundlegende Ideen gehen auf augustin louis Cauchy (1789 – 1857) zurück. Seine Grenzwertdefinition sieht aus heutiger Sicht zwar umständlich aus, enthält aber schon das Wesentliche: „Wenn die einer Veränderlichen nach und nach beigelegten Werte sich einem gegebenen Wert mehr und mehr nähern, so dass in dieser Reihe schließlich Werte existieren, die von jenem gegebenen Wert so wenig, wie man will, verschieden sind, so nennt man den gegebenen Wert die Grenze jener übrigen Werte …“ [Cauchy, A. L.: Cours d’Analyse de l’Ecole Polytechnique. De Bure, Paris 1821] Die Ableitung beschreibt Cauchy folgendermaßen. Er lässt zunächst im Differenzenquotienten ​ Δy _ Δx ​= ​ f(x + i) _ i die Zahl i gegen 0 streben und stellt fest, dass dabei sowohl der Zähler als auch der Nenner des Bruchs gegen 0 strebt. Dann sagt er: „Aber während sich diese beiden Glieder unbestimmt und gleichzeitig der Grenze null nähern, wird ihr Verhältnis selbst gegen eine andere Grenze, sie sei positiv oder negativ, konvergieren können …Diese Grenze, oder dieses letzte Verhältnis, hat, wenn es existiert, für jeden speziellen Wert von x einen bestimmten Wert; aber es variiert mit x … Um diese Abhängigkeit auszudrücken, gibt man der neuen Funktion den Namen abgeleitete (derivierte) Funktion, und bezeichnet sie mittels eines Akzentes mit y’ oder f’(x).“ [Cauchy, A. L.: Resume des lecons donnees a l’Ecole Polytechnique sur le calcul infinetisimal. De Bure, Paris 1823] Die Stetigkeit definiert Cauchy im Wesentlichen durch die Gleichung ​lim α ¥ 0 ​f(x + α) = f(x). Mit Hilfe des Stetigkeitsbgegriffs wurden grundlegende Sätze über reelle Funktionen genauer formuliert und bewiesen. So bewies Bernard Bolzano (1781 – 1848) den Zwischenwertsatz in seiner berühmten Arbeit „Rein analytischer Beweis, daß zwischen zwey Werthen, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege“. Dabei ging es nicht darum, jemanden von der Richtigkeit dieses Satzes zu überzeugen (an der Richtigkeit zweifelte ja niemand), sondern zu zeigen, dass man diesen Satz ohne Benutzung der Anschauung, allein auf der Grundlage der reellen Zahlen begründen kann. Während die Differentialrechnung früher hauptsächlich als Hilfsmittel für die Mechanik und Astronomie angesehen wurde, wurde sie im 19. Jahrhundert (wohl durch die exaktere Fundierung) zu einer eigenständigen mathematischen Disziplin, die in eine umfassendere Disziplin eingebettet wurde, die man heute „Analysis“ nennt. augustin louis Cauchy (1789 –1857) Bernard Bolzano (1781 –1848) exaktifizierung der Differentialrechnung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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