sprachreif 2, Schülerbuch

2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 „Welch eine merkwürdige Spezies wir doch sind“, stellt der Psychologieprofessor Paul Rozin fest. Wir tun alles, um Schmerz zu vermeiden; doch manchmal suchen und genießen wir ihn geradezu. Im Hochland von Mexiko besuchte der Wissenschaftler von der University of Pennsylvania ein Dorf nahe der malerischen Stadt Oaxaca, in dem die Bürger ganz versessen sind auf Scharfes. Fünfjährige Kinder greifen dort lieber zu einer Salz-Chili-­ Mischung als zu süßen Bonbons. Und die Tortillas sind so scharf, dass selbst die ortsansässigen Schweine und Hunde einen Bogen um sie machen. Schmerzhaft bekommen die Tiere zu spüren, dass Chilischoten Capsaicin enthalten, einen Stoff, der direkt auf die Schmerzrezeptoren losgeht. Millionen Kinogänger begeistern sich […] am Sadomasofilm Fifty Shades of Grey […]. Immer mehr Menschen nehmen beim intensiven Sport oder unter der Nadel eines Tätowierers Schmerzen bewusst in Kauf. Warum quält sich Homo sapiens freiwillig? Rozin meint, weil wir zu einer Art von gutartigem Masochismus tendieren, bei dem wir ohne Gefahr und für überschaubare Zeit über den Schmerz triumphieren. Solch kleine Siege lösen eine regelrechte Euphorie aus. „Ich schnappe nach Luft, als mich der köstliche, lustvolle Schmerz durchzuckt“, haucht die Protagonistin Anastasia Steele in Fifty Shades of Grey. Ganz anders als um diesen unterhaltsamen „U-Schmerz“ ist es hingegen um den ernsten „E-Schmerz“ bestellt. Bösen, krankheitsbedingten Schmerz bekämpfen wir mit allen Mitteln. […] Schmerz ist eine extrem subjektive Empfindung. Was den einen dieWände hochtreibt, empfindet der andere womöglich als stimulierend. Schmerz und Lust liegen eng beieinander. Marathonläufer werden für ihre Schinderei oft mit einem Glücksgefühl (dem runners high) belohnt; Masochisten gelangen dank Schmerz zum Orgasmus; und offenbar können sogar schärfste mexikanische Chilisuppen Entzücken auslösen. Diese Hochgefühle sind möglich, weil Schmerz ein Lehrmeister ist, der nicht nur die Peitsche kennt, sondern auch das Zuckerbrot – in Gestalt sogenannter Endorphine. Die körpereigenen Botenstoffe werden immer dann im Gehirn ausgeschüttet, wenn wir eine positive Lernerfahrung machen. […] Schädliche Aktionen werden durch Schmerz bestraft, erfolgreiche mit einer Prise Endorphin versüßt. Vor allem das Abebben unangenehmer Erfahrungen wird als Belohnung empfunden. Herrlich, wenn der Schmerz nachlässt. Genau das macht sich die moderne Schmerzbekämpfung zunutze: Statt die negative Emotion lediglich abstellen zu wollen, versucht sie gezielt, positive Emotionen anzuregen und damit die Endorphin-Produktion im Gehirn anzukurbeln. Das Erlebnis, dass eine scharfe Suppe uns nicht vergiftet, sondern Wohlgefühl spendende Botenstoffe im Hirn freisetzt, ist ein gelungenes Spiel mit dem Lehrmeister Schmerz. Wir nehmen die Schärfe gern in Kauf, weil der Geschmack des Essens dadurch intensiver wird. Entscheidend ist dabei die Bilanz der Emotionen. Die Aussicht auf einen Erfolg lässt uns vielerlei Pein ertragen: Selbst die fürchterlichen Schmerzen einer Geburt weichen alsbald der Freude, liegt erst das Neugeborene im Arm der Mutter. „Schmerz ist eben nicht immer gefährlich“, sagt die norwegische Psychologin Siri Leknes, die in ihrem Labor mögliche positive Effekte des Schmerzes untersucht. Aber wie lässt sich der unangenehme Schmerz in eine erträgliche Erfahrung umwandeln? In Therapien geht es zunächst darum, das Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden. Noch schlimmer als der Schmerz kann nämlich die Angst davor sein. Wer sich als Opfer des Schmerzes fühlt, jedes Zwicken ängstlich registriert, wird zur Geisel der Qual. Wer sich jedoch selbst als Akteur erlebt, wer sein Schmerzempfinden bewusst beeinflussen kann, ist weit besser dran. Allein das Wissen darum, dass Schmerz im Kopf entsteht und nicht jeder Stich für einen bedrohlichen Körperschaden steht, kann den 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Überwinde den Schmerz Von Harro Albrecht | 19.05.2015 Er kann große Lust sein – und natürlich große Qual. Wie intensiv wir ihn empfinden, beeinflussen wir selbst. Deshalb helfen Medikamente und Operationen nur bedingt. Schmerztherapie muss auch im Kopf stattfinden. 103 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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