sprachreif 2, Schülerbuch

2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 DIE FURCHE: Jüngst hat die Regierung neue Anti-Pandemie-Maßnahmen für die Vorweihnachtszeit und darüber hinaus verkündet: angefangen beim Verbot von Alkohol „to go“ über den Appell, bei heimischen Online-Händlern zu kaufen bis hin zur Verunmöglichung des Verreisens rund um die Feiertage. Wie viel Gehorsam ist nach diesem Erlass angebracht? Anneliese Rohrer: Sich an die Maßnahmen zu halten, die der Eindämmung der Pandemie dienen, hat nichts mit Gehorsam zu tun, sondern mit Vernunft. Die jeweiligen Schritte sollten dennoch in sich schlüssig sein und zusammen mit anderen ein logisches Konzept ergeben. Das ist aktuell oft nicht der Fall. Deshalb läuft alles auf Eigenverantwortung hinaus. Sie ist nicht besonders ausgeprägt, was allen schadet und niemandem hilft. DIE FURCHE: In Ihrem Buch „Ende des Gehorsams“ forderten Sie 2011 Ihre Leser(innen) und insbesondere die Zivilgesellschaft auf, weniger zu jammern und dafür demokratische Rechte in Anspruch zu nehmen. Damals orteten Sie einen „vorauseilenden Gehorsam“ in unserer Gesellschaft. Was hat sich seit der Veröffentlichung Ihres Buches verändert? Rohrer: Ich hätte mir 2011 nicht vorstellen können, dass wir uns so um den Bestand der Demokratie sorgen müssen, wie wir es jetzt tun. Dieses Buch handelt eigentlich davon, dass die Österreicherinnen und Österreicher – und das hat historische Gründe – den vorauseilenden Gehorsam zur ihrem Lebensmotiv gemacht haben. Man hat sich daran gewöhnt, sich nicht nur anzupassen, sondern das zu tun, was man glaubt, was von einem erwartet wird. Teilhabe sieht anders aus. Wir sind eine Zuschauer-Demokratie. Im Laufe der Zeit sind dann noch die Wut-Bürger dazugekommen. In meiner Kolumne in der Presse habe ich immer wieder E-Mails und Reaktionen von Lesern bekommen, die sich über die Politik in Österreich massiv empörten. Dabei haben sowohl die Bundesverfassung wie auch die Landesverfassungen bei uns ungeahnte – im wahrsten Sinne des Wortes, weil ungebrauchte – Möglichkeiten für die demokratische Teilhabe der Bürger. Diese werden nur nicht ausgeschöpft. Eine Einschränkung will ich aber machen: Am Land tut sich da viel mehr. Auf lokaler Ebene sind die Leute gar nicht so inaktiv, im Gegenteil. Dennoch gilt dort wie in den Städten: Man muss auf die jungen Leute bauen. […] DIE FURCHE: Die Corona-Pandemie gilt einerseits als Gesundheitskrise, andererseits als demokratiepolitische Prüfung. Wie viel Ungehorsam ist jetzt gerechtfertigt? Rohrer: Keiner, wenn er sich mit dem Hausverstand schlägt. In meinen Augen ist dieses Anti-Corona-Theater over the top, weil es nichts hilft. Das Virus ist da. Es ist leichter, gegen ein Virus oder eine Verschwörung auf die Straße zu gehen und zu schreien, um sich dann anzustecken, als wirklich etwas gegen die echten Gefahren der Einschränkungen der Freiheiten zu tun. Wie sind wir in diese Situation mit diesen unglaublichen Zahlen gekommen? Indem die Leute einfach im Sommer und auch im Herbst ihre Eigenverantwortung nicht wahrgenommen haben. Diese Linie ist gescheitert, da kann man der Politik nicht einmal einen Vorwurf machen. DIE FURCHE: Haben Sie trotzdemVerständnis für Menschen, die sich in ihren Freiheitsrechten beschränkt sehen? Rohrer: Für manche. Ich bin dafür, dass man wachsam ist. Dass man nicht einfach hergeht und etwa einer Nachschau in den privaten Räumlichkeiten kommentarlos zustimmt. Aber diese Grenze muss ich doch selber erkennen. Ich muss so viel Sensibilität haben, dass ich als moderner Mensch – ob jung Anneliese Rohrer: „Die Nase rümpfen genügt nicht“ Interview von Andreas Kirchner | 10.12.2020 Als ihr „Haus-, Hof- und Leibthema“ bezeichnet die Journalistin, Polit-Kommentatorin und Kolumnistin Anneliese Rohrer das Phänomen des Gehorsams, über das sie 2011 sogar ein Buch geschrieben hat. Im Interview spricht die 76-Jährige über Folgsamkeit und Disziplin in Coronazeiten und ab wann sich der Ungehorsam wieder Bahn brechen muss. 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 167 Schriftliche Kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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