sprachreif 2, Schülerbuch

ler Bedeutungsträger. Kulturell vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im Raum eine konkret anschauliche Manifestation. Räume in der Literatur, das sind menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungsweisen zusammenwirken. […] Als Signatur sozialer und symbolischer Praktiken ist Raum kulturell produziert und kulturell produktiv: Der Raum selbst spiegelt demzufolge bestehende Machtverhältnisse wider und verfestigt diese. QUELLE: Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Bielefeld: transcript Verlag. 2009. S. 11. A18 Klären Sie im ersten Schritt unbekannte Begriffe! Fassen Sie mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner jene Informationen zusammen, die Sie zum literarischen Raum erfahren und erklären Sie die Aussage, der Raum sei „kulturell produziert und kulturell produktiv“ in eigenen Worten. Diskutieren Sie dann, was den Raum als Analysekategorie für das Lesen eines Textes so interessant macht. Die anleitenden Fragen zur Diskussion lauten: • Warum könnte es sinnvoll sein, beim Lesen eines Textes darauf zu achten, wie der fiktionale Raum, in dem sich die Figuren befinden, beschrieben und dargestellt wird? • Was könnte uns die Platzierung der Figuren innerhalb eines Raumes über deren Stellung oder über deren Beziehung/Verhältnis zueinander verraten? A19 Lesen Sie den Auszug aus Josef Winklers Roppongi – Requiem für einen Vater und analysieren Sie die Bedeutung des literarischen Raumes in dieser Textstelle in einem konstruktiven Gruppengespräch. Überlegen Sie dabei, wie die Schilderungen über den Umgang mit dem Tod durch die Beschreibungen der Örtlichkeiten unterstrichen und umrahmt werden. Achten Sie bei der Analyse auf die sprachlichen Mittel zum Beschreiben des Raumes und die Verortung der Toten im Raum. Josef Winkler: Roppongi Während in meinem Heimatdorf in Kärnten, wenn sich beim Zügenläuten die schwarze Schlange des Leichenzugs amWaldrand und an den wie verkehrte Federstiele, von denen schwarze Tinte rinnt, stehenden Fichten und Tannen vorbei zum Friedhof hin bewegt, Ruhe herrscht, die Maschinen abgestellt werden, die Kinder vom Spielplatz verschwinden, man nichts mehr hört als das Vorbeten des vor dem Sarg gehenden Priesters und der Ministranten und das Gebetsgemurmel der Trauer- und Freudengäste im Leichenzug und sich der Kopf des Toten vom rhythmischen Gang der Sargträger das allerletzte Mal bewegt, bevor der Verstorbene in der Erde zur ewigen Ruhe gebettet wird und sich unter der Erde, im verschlossenen, warmen Sarg, nur mehr die kleinen Blüten an den obersten Spitzen der rosaroten, bündelweise auf dem Toten liegenden Gladiolen öffnen, höchstens ein Pfau oder ein Hahn die dörfliche Stille zerreißt, das Leben also vom Tod getrennt wird, vermischen sich Leben und Tod beim hinduistischen Bestattungsritual in Varanasi am Einäscherungsplatz des Harishchandra Ghats. Kinder laufen mit ihren sich höher und höher ziehenden seidenen Papierdrachen zwischen den brennenden Scheiterhaufen, ein Frisör schneidet dem ältesten Sohn eines Verstorbenen, der den Scheiterhaufen anzünden soll, eine Glatze – nur an der Fontanelle bleibt ein kleines, dünnes Zöpfchen übrig –, den vor einer Feuerstelle stehenden Kühen hängen die orangefarbenen Marigoldgirlanden lange aus dem Maul, bis sie verschlungen sind, Hunde lecken die Reste des Butterschmalzes von den Blättertellern, des sogenannten „Ghee“, das beim Einäscherungsritual verwendet und mit dem die Verstorbenen, bevor sie in ein weißes Baumwolltuch eingewickelt, gesalbt werden. Die Prozession des Lebens […] beinhaltet die Prozession des Todes. In Varanasi wird der Tod weder geleugnet noch gefürchtet, sondern als lang erwarteter Gast willkommen geheißen. QUELLE: Winkler, Josef: Roppongi. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010. S. 151. B C 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 6 8 10 12 14 16 18 69 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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