global 7. Geographie und Wirtschaftskunde, Schulbuch

62 Fallbeispiel Kompetenzorientierte Lernziele Entstehung regionaler Disparitäten diskutieren Auswirkungen regionaler Disparitäten auf das Alltagsleben erläutern Die Mur-Mürz-Furche Die Mur-Mürz-Furche in der Obersteiermark war bis in die 70-er Jahre neben dem oberösterreichischen Zentralraum und dem Wiener Becken eines der industriellen Zentren Österreichs, besonders im Bereich der Schwerindustrie. Doch der Wandel der früher günstigen Standortfaktoren hat in dieser Region zu einer strukturellen Krise geführt, mit Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Heute ist er durch High-Tech-Unternehmen geprägt. In den 50-er und 60-er Jahren waren Städte wie Leoben, Mürzzuschlag, Kapfenberg, Kindberg und Zeltweg reiche Gemeinden – in jeder Stadt befand sich meist eine Produktionsstätte („Das Werk“), in der fast alle Bewohner arbeiteten. Die Betriebe gehörten dem Staat Österreich und erzeugten meist Produkte der Grundstoffindustrie ohne hohen Technologieanteil, meist Stahlprodukte, die Löhne waren hoch, zusätzliche Sozialleistungen (Werkswohnungen, Kindergärten, günstige Einkaufsmöglichkeiten) waren vorhanden. Der große Nachteil dieses damals erfolgreichen Systems: Die internationale Stahlkrise, die günstiger produzierenden Mitbewerber in Übersee, der geringe Modernisierungszwang in der Verstaatlichten Industrie, verbunden mit immer höheren, notwendigen Steuerzuschüssen der Republik ua führten zum Niedergang der Region: Betriebe mussten schließen, Arbeitsplätze gingen für immer verloren, die sinkende Kaufkraft ließ Geschäfte und Zulieferer ebenfalls zusperren, und vor allem junge Menschen sahen keine Zukunft mehr in der Region, die Abwanderung setzte ein. Heute hat sich der industrielle Schwerpunkt eindeutig in die Region Graz und die bislang ländliche Oststeiermark verschoben: Neue, innovative Wirtschafts- und Förderkonzepte haben die Steiermark zu einem Cluster-Technologieland gemacht. Dieses Bundesland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vom grundstoffabhängigen Industriegebiet zum internationalen Technologiestandort mit hohem Innovationspotenzial entwickelt! Internationale Konzerne betreiben hier Entwicklungszentren und Produktionsstätten und steirische High-Tech-Unternehmen haben Niederlassungen in aller Welt. (http://www.wirtschaft.steiermark.at/cms/dokumente/11019062_34724454/d2aa6745/Wirtschaftsbericht%20 2013.pdf, abgerufen am 24. 4. 2017) M1 Wirtschaftlicher Wandel in der Steiermark Die Steirer und ihre Krise Ein Supermarkt am Stadtrand von Wien. An der Kasse sitzt Margarete S., wohnhaft in Mürzzuschlag. Um vier Uhr morgens steigt sie dort in einen Firmenbus, wird nach Wien gebracht und dann weiter zu der Filiale am Stadtrand, in der sie jetzt an der Kasse sitzt. Am Abend geht es dann auf demselben Weg wieder zurück, alles zusammen gut vierzehn Stunden jeden Tag. Aber was soll sie anderes tun? In dem einst so stolzen obersteirischen Industrierevier findet sie keine bessere Arbeit. „Und irgendwann“, wirft Michael Steiner ein, „bleibt sie dann in der Wiener Gegend.“ Der Professor für Volkswirtschaft an der Universität Graz ist spezialisiert auf die Analyse der steirischen Wirtschaft. „Außerdem“, fügt er hinzu, „war es für Frauen in der obersteirischen Industriegegend immer schwer. Auch in der Blütezeit haben dort vor allem Männer im Schichtbetrieb gearbeitet. Der Dienstleistungssektor war immer unterentwickelt.“ Und diese Blütezeit liegt schon eine Weile zurück. Damals war die Kassiererin Margarete noch längst nicht auf der Welt. In der Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg gab es vor allem in der Industrie einen atemberaubenden Aufschwung. Rasch arbeitete man sich (unterstützt vom Marshallplan) technologisch an die Weltspitze. „Prototypisch dafür“, ist bei Steiner nachzulesen, „war 1949 die Erfindung des Linz-Donawitz-(LD)-Verfahrens, das die Konkurrenzfähigkeit der Eisen- und Stahlindustrie in Österreich und der Steiermark entscheidend verbesserte.“ Steiners Beitrag findet sich in dem Band „Steiermark“ aus der Serie „Die Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945“. In seiner Beschreibung wird die Tragödie, die sich später ereignete, greifbar: „In der Obersteiermark war in den siebziger Jahren beinahe jeder dritte Beschäftigte in der Verstaatlichten tätig.“ Das war die Blütezeit, in der die Stahlkocher sogar einen erstklassigen Fußballverein finanzieren konnten, den KSV, den Helmut Qualtinger nach einem legendären Auswärtsspiel am 27. Oktober 1956 kabarettistisch mit dem Satz verewigte: „Simmering gegen Kapfenberg, das nenne ich Brutalität.“ Damals blieb der Simmeringer Tormann nach einem Kapfenberger Angriff mit einem offenen Knochenbruch auf dem Feld liegen. Die steirische Mannschaft fuhr mit einem 1 : 0-Sieg nach Hause. Michael Steiner schreibt: „Der Abbau von 46 Prozent dieser Arbeitnehmer (bzw. von etwa 11 000 Personen) von 1981 bis 1991 traf damit diese Region besonders. Im Einzelfall von Betrieben stellen sich diese Zahlen noch dramatischer dar: Im Zeitraum 1971–1991 wurden die Arbeitsplätze bei Böhler von 11 400 auf 3900 reduziert, bei den VoestAlpine-Betrieben von 16 500 auf 6 400, am Erzberg von 4 000 auf 300.“ Das ist eine ganz andere Dimension von Brutalität. Die Krisenjahre um 1986 trafen die Steiermark besonders hart. In der Bundesländergeschichte „Steiermark“ belegt die Historikerin Annelies Redik die Entwicklung der Wohnbevölkerung. Im Jahr 1971 erreichte sie einen Höchststand Regionale Disparitäten und Alltagsleben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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