Vielfach Deutsch 1, Leseheft

Typisch Märchen? Die schöne Prinzessin, der mutige Prinz, die gute Fee und die böse Hexe: Märchenfiguren haben typische Eigenschaften – und erfüllen meistens auch, was Leserinnen und Leser erwarten. Was wäre aber, wenn einmal die Rollen in einem Märchen vertauscht werden? Lies den Ausschnitt des Märchens Rapunzel, in dem Rapunzel männlich ist und eine Prinzessin zu ihm in den Turm klettert. Es waren einmal eine Frau und ein Mann, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind. Endlich machten sich die beiden Hoffnung. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen. Er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einem Zauberer gehörte, der große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet wurde. Eines Tags stand der Mann an diesem Fenster und sah in den Garten hinaus. Da erblickte er ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln, auch als Feldsalat bekannt, bepflanzt war. Sie sahen so frisch und grün aus, dass er das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, aber da er wusste, dass er keine davon bekommen konnte, wurde er traurig und sah bald blass und elend aus. Da erschrak die Frau und fragte: „Was fehlt dir, lieber Mann?“ „Ach“, antwortete er, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserem Hause zu essen kriege, so sterbe ich.“ Die Frau, die ihn lieb hatte, dachte: Eh du deinen Mann sterben lässt, holst du ihm von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will. In der Abenddämmerung stieg sie also über die Mauer in den Garten des Zauberers, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie ihrem Mann. Er machte sich sogleich Salat daraus und aß sie voller Begierde auf. Sie hatten ihm aber so gut geschmeckt, dass er den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte er Ruhe haben, so musste die Frau noch einmal in den Garten steigen. Sie ging also in der Abenddämmerung wieder in den Garten. Als sie aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak sie gewaltig, denn sie sah den Zauberer vor sich stehen. „Wie kannst du es wagen“, sprach er mit zornigem Blick, „in meinen Garten zu steigen und wie eine Diebin mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen!“ „Ach“, antwortete sie, „ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen. Mein Mann hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und empfindet ein so großes Verlangen, dass er sterben würde, wenn er nicht davon zu essen bekommt.“ Da ließ der Zauberer in seinem Zorn nach und sprach zu ihr: „Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, so viel du willst; allein, ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das du zur Welt bringen wirst. Es soll ihm gut gehen und ich will für es sorgen wie ein Vater.“ Die Frau sagte in der Angst alles zu, und als sie ein 14 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 36 Spannende Geschichten lesen und verstehen 3 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=