sprachreif 2, Schülerbuch

A14 Ergänzen Sie die wesentlichen Informationen aus dem Text in dieser Tabelle. Titel Der weiße Schal Verfasser/in Textsorte 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 ihres Pullovers hoch, sie will wieder an die Arbeit. An ihren Armen sind rote Flecken und verschorfte Haut zu sehen. Seit Dinara auf demDorf wohnt, hat sie eine Allergie gegen Gräser. Warum hat sie vor acht Monaten der Heirat zugestimmt? Dinara sagt: „Es ist unsere Tradition. Es gibt keine andere Lösung.“ Russell Kleinbach, emeritierter Professor für Soziologie an einer Privatuni in Philadelphia, untersucht seit Ende der Neunzigerjahre den Brautraub in Zentralasien. Den bezeichnet man in Kirgisistan als „Ala Kaschtu“, übersetzt: ergreifen und weglaufen. Und obwohl der Ausdruck ein alter Begriff der kirgisischen Sprache ist, wird Russell Kleinbach sehr bestimmend und macht lange Pausen zwischen den einzelnen Wörtern, als er sagt: „Der Brautraub in Kirgisistan ist keine Tradition.“ Geraubt haben die kirgisischen Männer ihre Frauen vereinzelt zwar auch schon im 18. Jahrhundert. Aber damals schmiedete das Liebespaar gemeinsam diesen Plan, weil die Eltern gegen die Verbindung waren oder die Eltern der Frau den Brautpreis nicht bezahlen konnten. Es war jede Menge Romantik und Wagemut im Spiel, wenn Mann und Frau zusammen durchbrannten. Die kirgisische Kultur begründet sich auf das Volksepos von Manas, eine Art kirgisischer Siegfried. „Wenn der Brautraub Tradition wäre, dann wäre es im Manas beschrieben“, sagt Russell Kleinbach. Das Werk umfasst 500 000 Verse, vom Brautraub ist nicht ein Mal die Rede. Stattdessen reitet Manas’ Vater Jakib achtzig Seiten lang durch das Land, um eine Braut für seinen Sohn zu finden. Von den Eltern arrangierte Ehen haben sehr wohl Tradition in Kirgisistan. Der Brautraub nicht. Der ist eine Erfindung aus den Sowjetjahren. „Ala Kaschtu kam vor etwa vierzig, fünfzig Jahren verstärkt auf, die Zahlen stiegen vor allem nach 1991 stark“, sagt Russell Kleinbach. Nach der Oktoberrevolution propagierten die sowjetischen Führer in Kirgisistan die Gleichstellung von Mann und Frau. Arrangierte Ehen waren unter den jungen Kirgisen bald verpönt. Gut möglich, dass die Männer und Frauen ihre neue Freiheit bei der Partnerwahl demonstrierten, indem sie auf die alte Form des Brautraubs in gegenseitigem Einverständnis zurückgriffen. „Dann aber begannen Männer und ihre Familien die Frauen gegen ihren Willen zu rauben, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stiegen die Zahlen.“ Der US-amerikanische Journalist Thomas Morton kommt am Ende seines Dokumentarfilms über kirgisischen Brautraub zu einem ganz simplen Schluss: „Kirgisische Männer rauben Bräute aus demselben Grund, weshalb sich Hunde ihre Eier lecken: einfach weil sie es können.“ […] QUELLE: Stern NEON. Hamburg: Verlag Gruner und Jahr, September 2013. S. 64 bis 71. 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 INFOBOX Die zentralasiatische Republik Kirgisistan hat rund 5,5 Millionen Einwohner/innen, vier von fünf sind muslimischen Glaubens. Etwa eine Million Menschen leben in der Hauptstadt Bischkek. Siegfried: Held aus dem Nibelungenlied, mittelalterl. Heldenepos aus dem 13. Jhdt., unbekannter Verf. Oktoberrevolution: gewaltsame Machtübernahme der russischen Bolschewiken (Kommunisten) 1917; es wurde ein neuer Staat, die Diktatur des Proletariats, errichtet. 16 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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