sprachreif 2, Schülerbuch

46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 umfassenden Lebensgemeinschaft, das umfasst auch die sexuelle Gemeinschaft. Die grundlose Verweigerung des Geschlechtsverkehrs ist eine schwere Eheverfehlung. Datum: Aber was geht es den Staat an, ob man Sex hat oder nicht? Helene Klaar: Die Fortpflanzung. Der Zweck der Ehe ist, dass man Kinder zeugen und erziehen soll. Datum: Und wenn man schon Kinder hat, ist man dann immer noch zum Sex verpflichtet? Helene Klaar: Ja. Weil die Untreue eine schwere Eheverfehlung ist, muss man in der Ehe Sex haben können. Ein Staat hat Interesse an stabilen Beziehungen. Man darf die Zeit nicht vergessen, in der das Bürgerliche Gesetzbuch kodifiziert wurde, 1811 war das auf demGebiet der Monarchie. Da fürchtete man Zustände wie in der Französischen Revolution, wilde Promiskuität, und schrieb diese Bestimmung hinein. […] Datum: Das heißt, es geht um Gemeinschaft, nicht um Liebe. Helene Klaar: Ja. Wobei das Wort damals noch streng patriarchalisch gemeint war. Der Mann hatte das Hauswesen zu leiten, die Frau gesetzlich zu vertreten und ihr Vermögen zu verwalten. Sie teilte die Vorrechte seines Standes und musste ihm folgen; er bestimmte, wo der Wohnsitz der Familie ist. Sie war verpflichtet, demMann im Erwerb beizustehen und seine Anordnungen über den Haushalt zu befolgen. Da hat es genügt, wenn der Mann gesagt hat: Die Kinder gehen jetzt ins Bett. Dann musste die Mutter dafür sorgen, dass sie es tatsächlich tun. Datum: Wenn ich das höre, stelle ich mir einen klassisch bürgerlichen Haushalt vor … Helene Klaar: Sie sollten sich besser einen klassisch ländlichen Haushalt vorstellen, Österreich war damals ein Agrarstaat. Die oberen Zehntausend waren die Einzigen, die sich so etwas wie Liebesgeschichten tatsächlich leisten konnten. Da hat man halt der Mätresse ein Schloss, ein Haus oder ein Handschuhgeschäft eingerichtet, je nach finanziellen Möglichkeiten, und blieb dennoch verheiratet. Datum: Bei Bauern ging das nicht. Helene Klaar: Helene Bauer, die Frau von Otto Bauer, hat das in den Zwanzigerjahren blendend analysiert. Sie schrieb: Sowohl bei den Bauern als auch bei den Handwerkern ist die Bindung durch den gemeinsamen Erwerb noch viel stärker als durch das Eheband und ist deswegen praktisch unauflöslich. Datum: Weil man einen gemeinsamen Betrieb hat? Helene Klaar: Ja. Der ländliche Raum war ja der einzige, wo Gütergemeinschaft beider Partner üblich war. Weil eine Frau nicht auf einen Hof geheiratet und sich zu Tode geschuftet hätte, ohne wenigstens zu wissen, dass ihr die Hälfte vom Hof gehört. Bei Handwerkerbetrieben gab es das nicht. Datum: Da saß der Mann in der Schusterwerkstatt, und sie hat im Hinterzimmer das Leder geklopft … Helene Klaar: Genau das war eines der Motive für die Familienrechtsreform in den Siebzigerjahren. Weil es derart überhandgenommen hat, dass Frauen durch die Scheidung nicht nur den Mann, sondern gleichzeitig auch ihren Arbeitsplatz verloren. Ohne alle sozialen Ansprüche, weil sie meistens ja nicht einmal angemeldet waren. Datum: Dass die Gattin im Betrieb des Mannes die Buchhaltung macht, ist aber heute noch üblich. Helene Klaar: Ja, aber heute ist sie wenigstens angemeldet, mit einem niedrigen Gehalt. Weil die Unternehmer so schlau sind zu wissen, dass dann die ganze Familie bei ihr mitversichert ist. Alle saugen also die Gebietskrankenkasse aus, dann ist sie ein halbes Jahr arbeitslos gemeldet und dennoch weiterversichert, dann zahlt er ihr wieder ein halbes Jahr. In der Pension schaut dann natürlich kaum etwas für sie heraus, aber da kommen die Leute immer erst bei der Scheidung drauf. Datum: Bei Arbeitern spielt der gemeinsame Betrieb keine Rolle. Helene Klaar: Da sagt Helene Bauer: Die verdienen so wenig, dass sie nur zu zweit leben können. Und können sich deswegen nicht trennen. Datum: Wie heute. Wo man ebenfalls zwei Einkommen braucht, um sich einen Haushalt leisten zu können. Helene Klaar: Dass sich von einem Einkommen keine zwei Haushalte ausgehen, selbst wenn man sehr viel verdient – auch das wird den Leuten erst bei der Scheidung bewusst. […] Datum: Warum trennen sich Menschen? Helene Klaar: Es gibt tausend Gründe. Oft ist es so, dass sich anfangs Gegensätze anziehen. Aber nach vielen Jahren wird es zu anstrengend, sich ständig dem Tempo und den Hobbys des anderen anzupassen. Ein schlampiger Mann glaubt, er muss eine adrette Ehefrau haben, bis er nach zwanzig Jahren draufkommt, dass ihm die schlampige Wirtin am Eck immer schon viel mehr zugesagt hat. Oder das Sportliche gefällt dem nicht gar so Sportlichen, er 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 93 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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