sprachreif 2, Schülerbuch

26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 möglichst viele sexuelle und ethnische Minderheiten beim Sprechen und Schreiben einzuschließen, was zu den bekannten Sprechstolperern und Verständnisverzögerungen führt, zu hässlichen Doppelpunkten oder Großbuchstaben mitten im Wort. Von einemTheaterinnenhof war kürzlich die Rede – und tatsächlich dauerte es ein paar Sekunden, bis man begriff, dass das ein Wort ganz ohne Hintersinn war. Aber wenn man als sprach-kritische Reaktion darauf immer nur mit dem generischen Maskulinum droht und trotzig den semantischen Status quo verteidigt, demonstriert man nebenbei, dass man es nicht für nötig hält, neue Verhältnisse mit neuen Begriffen zu beschreiben. Das andere Thema sind die Leute, die man unterhalb des eigenen Status vermutet, die Menschen, die Migrantenslang sprechen oder Straßendeutsch und die, was wohl vom vielen Hip-Hop-Hören und Serienschauen kommt, immer neue englische Wörter in die schöne deutsche Sprache schmuggeln, sich mit unverständlichen Ausdrücken der Aufsicht von Lehrern, Eltern und Sprachhütern entziehen und damit ihren Anteil haben an der Spaltung der Gesellschaft in jene, die den Babo verstehen, und jene, denen das verwehrt bleibt. Wer diesen Schmuggel unterbinden will, übersieht aber, dass sich auf diesemWeg, von unten gewissermaßen nach oben, die Sprache schon immer erneuert hat, und kann sich ja schon mal bei Manufactum ein paar gute alte deutsche Wörter reservieren lassen. Wobei der ganze Jugend- und Migrantenslang hundertmal anschaulicher ist als das dürre, bürokratische und meistens manifest falsche Pseudoenglisch, das im oberen Management jede Konferenz zu einem einzigen Missverständnis macht. Sprachkritik ohne Liebe zur Sprache, ohne Leidenschaft für den schöneren, genaueren und frischeren Begriff, ist pure Nörgelei, sie bleibt folgenlos – und muss genau deshalb ihrerseits Gegenstand der Sprachkritik sein: Weil Folgenlosigkeit das Schlimmste ist, was man einem Satz bescheinigen kann. Und weil es um eine andere Art der Kritik, eine Kritik, die fragt, wie Sprache ihren Gegenstand spiegelt oder verschleiert, erhöht oder eben verhöhnt, eigentlich gehen muss. Wer sagt was zu welchem Zweck und mit welchem Effekt: Das ist die Frage, die sich stellt, wenn man sich die Mühe macht, das Fernsehen, das Radio, die Politik ausnahmsweise einmal beimWort zu nehmen.[…] Feigenblatt Gendersternchen? Warum nicht einfach mal halbe-halbe machen! „Die Eskalation auf dem Tempelberg war die schlimmste der vergangenen Jahre“: Ja, ist das Jahr denn schon vorbei? Das Unternehmen ist in eine Schieflage geraten, das Rettungspaket wurde beschlossen, die Notbremse wird umgesetzt. Ist tatsächlich ganz in Vergessenheit geraten, was man mit Paketen tut und was mit Bremsen? Und dass Schieflagen eine gute Grundlage fürs Skifahren sind? „Wie wollen Sie die Leute mitnehmen, ohne dass das Angst macht?“, fragt das ZDF die Kanzlerkandidatin der Grünen. Angst scheinen Medienmenschen und Politiker aber vor allem davor zu haben, dass aus dem Geplapper eine klare Aussage werden könnte, eine Aussage, die man verifizieren oder dementieren könnte. Es hat schon seinen Grund, dass das Verb „gelten“ immer beliebter wird: „Vier“ gilt als richtige Antwort auf die Frage, was zwei mal zwei ergibt. Bloß nicht darauf festlegen, dass es wirklich so sei. Es könnte ja irgendwer kommen und sich beschweren. Und so scheint hinter all demmedialen Geschwafel und Gefloskel, hinter den schiefen Metaphern, falschen Bildern und verirrten Verben jene Konfliktscheu, Verdruckstheit und profunder Pointenlosigkeit zu wirken, wie sie das öffentlich-rechtlichpolitisch-mediale System anscheinend zwangsläufig hervorbringt. Ein klarer Satz könnte schon die Kritik dessen sein, was er beschreibt. Eine Pointe lebt von der Präzision. Kann es eigentlich sein, dass Deutsche weniger gut Deutsch können als Engländer Englisch und Franzosen Französisch? QUELLE: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/sprachkritik-zu-dumm-fuer-gutes-deutsch-17341019.html; (abgerufen am 14.03.2022) 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 97 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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