Der Bildungsminister im Gespräch mit Lehrkräften

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Am 19. Mai fand im öbv der Bildungstalk „Der Bildungsminister im Gespräch statt“. Christoph Wiederkehr war persönlich vor Ort, erklärte den Lehrkräften seine Pläne und beantwortete ihre Fragen.

Das gemütliche Bistro im öbv-Büro in der Lassallestraße war selten so voll: Rund 130 Lehrkräfte hatten sich eingefunden, um den Bildungsminister persönlich zu erleben und ihm Fragen stellen zu können. öbv-Geschäftsführer Philipp Nussböck führte durch den Abend. Nachdem sich die Lehrkräfte im Saal in einem kurzen Austausch kennengelernt und ihre aktuellen Herausforderungen geteilt hatten, begann das Podiumsgespräch mit Bildungsminister Christoph Wiederkehr.

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„Bildungsminister ist der schönste Job, den ich mir vorstellen kann“

Christoph Wiederkehr erzählte dabei auch, wie er selbst seine Schulzeit erlebt hat. Er sagte, es war sehr Positives, aber auch Schwieriges dabei. Als sehr neugieriges Kind machte ihm das Lernen an sich Spaß. In der Oberstufe begann er aber zu hinterfragen: Wofür mache ich das eigentlich? Das mochten nicht alle. Aus der Frustration heraus hat er aber als Schulsprecher kandidiert und erreicht, dass mehr Mitbestimmung sowie eine Schuljause eingeführt wurden. Warum wollte er den Job des Bildungsministers machen, auch wenn er große Herausforderungen mit sich bringt und Erfolge teils erst nach Jahrzehnten sichtbar werden? „Es ist der schönste Job, den ich mir vorstellen kann“, sagt der Bildungsminister dazu. Er hält es für falsch, dass man mit Bildungspolitik nicht erfolgreich sein kann. Für ihn hat sich bereits bestätigt: Wenn man über Bildung redet, kann man auch Wahlen gewinnen.

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„Der Lehrkräftemangel ist ein fatales Zeichen für unsere Gesellschaft“

Vor dem Bildungsminister sitzt ein Raum voller Lehrkräfte. Viele von ihnen merken an ihren Schulen, dass Pädagog*innen fehlen. Sie müssen deshalb mehr Stunden übernehmen, Überstunden leisten und häufig supplieren. Was plant Christoph Wiederkehr, um den Lehrkräftemangel kurz- und langfristig in den Griff zu kriegen? Er stellt seinen Ausführungen voran: „Ich halte den Lehrkräftemangel für ein ganz fatales Zeichen für unsere Gesellschaft. Pädagogische Berufe sind die wichtigsten, die wir in unserer Republik haben.“ Er ist überzeugt: Neben Rahmenbedingungen und Bezahlung ist es vor allem die mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung, die den Lehrkräftemangel bedingt: In Schweden fühlten sich 60 Prozent der Lehrkräfte wertgeschätzt, in Österreich – sogar nach der Pandemie noch – nur zehn Prozent. Es brauche eine positivere Stimmung, einen politischen Aufbruch. Das Budget sieht er als Zeichen dafür, dass Bildung der Politik in Österreich wichtig ist. Sein Ziel? „Am Schluss meiner Amtsperiode soll es keinen Lehrkräftemangel mehr geben. Ich bin zuversichtlich, dass das gelingen wird.“

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„Kinder können nichts dafür, in welche Familie sie geboren werden“

Viele Volksschulkinder in Wien und anderen Städten verstehen nicht genug Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können. Das angestrebte „Sprachbad“, in dem Kinder ganz nebenbei Deutsch lernen, ist an vielen Schulen eine Utopie. Die Zahlen gingen bereits mehrfach durch die Medien, viele der anwesenden Lehrkräfte kennen die herausfordernde Lage aus dem eigenen Arbeitsalltag. Wie will der Bildungsminister hier Verbesserung bewirken, sodass die betroffenen Lehrkräfte wieder halbwegs normal unterrichten können? Christoph Wiederkehr scheint das Ausmaß des Problems bewusst: „60 Prozent der Pflichtschüler*innen haben nicht Deutsch als Erstsprache, viele verstehen nicht genügend Deutsch, um dem Unterricht zu folgen. Unser Schulsystem ist aber darauf ausgelegt, dass 100 Prozent der Kinder gut Deutsch können.“ Das sei schwierig, denn wenn man in Österreich nicht ordentlich Deutsch lerne, habe man weniger Chancen. Er möchte, dass über die konkrete Ausgestaltung der Deutschförderung schulautonom am Standort entschieden werden darf: „Ich vertraue grundsätzlich allen Schulen, dass sie das Beste für ihre Schülerinnen und Schüler machen.“ Dafür erhält der Bildungsminister sogar spontanen Applaus. Er betont: „Die Kinder können überhaupt nichts dafür, in welche Familie sie geboren werden, welchen Bildungshintergrund und welche finanziellen Mittel ihre Eltern haben. Alle müssen beste Chancen erhalten, ihre Potenziale zu entfalten.“

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„Die Krisen unserer Gesellschaft merken Sie im Klassenzimmer“

Lehrkräfte übernehmen aktuell neben Wissensvermittlung und Lerncoaching auch Sozialarbeit, Erziehung, Administration, psychologische Unterstützung und vieles mehr. Wird es in Wiederkehrs Ministerzeit echte Unterstützung geben und das Ideal der multiprofessionellen Teams endlich Wirklichkeit werden? „Auf jeden Fall! Wir werden große Schritte in diese Richtung gehen.“ Er erwähnt unter anderem den geplanten Chancenbonus sowie einen Ausbau von Schulpsychologie und -sozialarbeit.

Multiprofessionelle Teams sind auch in Hinblick auf Gewalt und Radikalisierung relevant, die auch an Schulen eine Rolle spielen. Wie können in Extremfällen Suspendierungen aussehen, sodass sie wirklich etwas bewirken und nicht nur schulfreie Zeit bedeuten? Vor allem aber: Wie kann davor angesetzt werden? Wie kann Prävention passieren? Welche Unterstützung bekommen Lehrkräfte in dem Bereich? Wichtig und geplant sei ein Ausbau der Prävention im Bereich psychische Gesundheit: „Es ist wichtig, dass man einen gebrochenen Arm behandelt, aber ebenso wichtig ist es bei einer gebrochenen Seele.“ Von großer Bedeutung sei, dass Schüler*innen während einer Suspendierung begleitet werden, damit Unrechtsbewusstsein entstehe und Wiedereingliederung in die Klasse gelinge: „Mein Ziel ist, dass man Kinder nicht einfach nach Hause schickt und denkt, die Probleme sind damit gelöst.“

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„Ich bin nicht der Meinung, dass Lehrkräfte durch KI zu ersetzen sind“

Er sei nicht der Meinung, die Expert*innen hin und wieder äußern, dass Lehrkräfte mehr und mehr von Künstlicher Intelligenz ersetzt werden könnten. „Menschliche Bildungsarbeit ist wichtig, Lehrkräfte wird es ganz stark weiter brauchen.“ Auch das gedruckte Schulbuch sei nicht zu ersetzen, findet der Minister. Die Schulbuchaktion werde evaluiert und neu gestaltet. Das haptische Element sei auf jeden Fall weiter wichtig, aber es müsse um digitale Lernangebote ergänzt werden. Schulen sollten selbst entscheiden können, mit was sie am besten unterrichten könnten.

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„Ihr redet viel offener über psychische Gesundheit als meine Generation“

Zwei Jugendliche aus dem öbv-Jugendbeirat stellten auch aus Perspektive der Schüler*innen Fragen an den Bildungsminister. Helene aus Niederösterreich sprach an, dass die Zentralmatura nicht unbedingt für tatsächliche Vergleichbarkeit sorge, weil trotz gleichen Aufgaben die Lehrkräfte die Arbeiten ihrer eigenen Klassen korrigieren und nur Stichproben eingeschickt werden. Wie sieht das der Bildungsminister? „Ich finde den Wunsch nach Gerechtigkeit extrem wichtig. Zu meiner Schulzeit hatten teils die Schüler*innen von den Lehrkräften vorher die Matura-Fragen erfahren. Das ist auf jeden Fall nicht gerecht.“ Es brauche aber auch ein bisschen Spielraum für die Schulen, einen Mittelweg aus zentral und autonom. Er nehme sich aber auf jeden Fall mit: Dass manche die Matura am PC schreiben dürfen und andere nicht, sei eine große Ungleichheit, die ausgeräumt werden müsse. Er fragt bei der Schülerin nach, ob die Einrechnung der Jahresnote in ihrer Klasse positiv oder negativ gesehen werde. Sie berichtete, dass die Meinungen dazu auseinandergingen. Eine Lehrkraft erzählte später, dass durch die Einbeziehung der Jahresnote gewisse Absurditäten entstünden. Sei es nicht wichtig, dass die Matura zumindest positiv absolviert werde? Wiederkehr verweist auf verschiedene mögliche Ansätze rund um diese Frage, aber: „Wir werden dieses Problem für nächstes Jahr beheben.“

Magdalena aus Tirol fragte: Psychische Gesundheit sei für viele Jugendliche ein Thema. Aber viele trauen sich nicht, psychologische Unterstützung in der Schule in Anspruch zu nehmen. Es fehlt an Kommunikation, Transparenz und Vertrauen. Plant der Bildungsminister hier Verbesserungen? Psychische Gesundheit sei ganz zentral, psychische Herausforderungen und Erkrankungen müssten unbedingt enttabuisiert werden. Er habe daher etwa bereits die Förderung für die Initiative „Mental Health Days“ verdoppelt, damit Bewusstseinsbildung an noch mehr Schulen möglich sei. Er beobachtet: „Eure Generation redet über psychische Gesundheit schon viel offener als meine.“

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„Ich werde mein Bestes geben, dass in den nächsten Jahren auch an Ihrem Standort eine Verbesserung spürbar wird“

Für die Lehrkräfte standen die Themen Lehrkräftemangel und Deutschkenntnisse im Vordergrund. Viele berichteten von ihren Schulstandorten: „Wir sind mit sieben Kolleg*innen zu wenig gestartet in diesem Schuljahr. Inzwischen sind zusätzlich noch zwei Langzeitkrankenstände dazugekommen.“ – „90 bis 100 Prozent an meiner Schule haben eine nicht-deutsche Erstsprache. Selbst die Schüler*innen, die den Status ‚ausreichend‘ haben, können dem Unterricht nicht stundenlang folgen.“ – „Ich gehe jeden Tag gern in die Schule, aber hinaus gehe ich jeden Tag fix und fertig. Es wird von Jahr zu Jahr unerträglicher.“ – „Nach zwei Jahren fallen die Kinder aus der Sprachförderung heraus, dann können sie aber oft noch immer zu wenig Deutsch.“ – „Ich unterrichte im 10. Bezirk an einer Volksschule. Bei uns sprechen viele Kinder kaum Deutsch, aber in der zweiten Klasse haben wir im Herbst vermutlich 31 Schüler*innen.“ Der Minister hört zu, erkennt die Probleme an, zeigt Verständnis. Er verspricht: „Ich werde mein Bestes geben, dass in den nächsten Jahren auch an Ihrem Standort eine Verbesserung spürbar wird.“ Verschiedene Punkte verspricht er, sich mitzunehmen und genauer anzuschauen. Dem Wunsch, Schüler*innen mit nicht-deutscher Erstsprache über Quoten besser auf verschiedene Schulstandorte zu verteilen, erteilt er jedoch eine Absage: „Ich habe mir das in verschiedenen Ländern angeschaut. Es ist fast überall gescheitert, weil die Verteilung über Zwang passiert. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: Es gibt einen Weg, wie man damit umgehen kann. Über einen Chancenbonus sollen die Schulen mehr Mittel bekommen, die größere Herausforderungen haben. So können sie in kleineren Gruppen besser fördern bzw. schulautonom entscheiden, wofür sie diese Ressourcen gerade brauchen. Das halte ich für den klügeren und besseren Ansatz.“ Er erzählt von einer „Turnaround-Schule“ in London, die mit einer sehr herausfordernden Ausgangssituation gestartet ist, aber über einen Chancenbonus nach zehn Jahren bessere Leistungen aufweisen konnte als die „besser zusammengesetzten“ Schulen.

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„In Wahrheit prüfen wir beim Übergang nach der Volksschule die Mitarbeit der Eltern ab“

Wiederkehr stimmt zu, dass in Österreich Kinder zu früh in verschiedene weiterführende Schulformen aufgeteilt würden: „In Wahrheit prüfen wir beim Übergang nach der Volksschule die Mitarbeit der Eltern ab.“ Die Bildungsforschung zeige, dass die frühe Trennung der Chancengerechtigkeit abträglich sei. Aber: „Das Thema ist in Österreich ideologisch totgeritten. Der Reanimationsprozess wird nicht leicht. Meiner Meinung nach können wir das Thema nur wiederbeleben, indem wir in Modellregionen zeigen, dass eine gemeinsame Schule funktioniert.“ Er will die Rahmenbedingungen ändern, um die Einrichtung solcher Modellregionen zu erleichtern.

Weitere Themen waren unter anderem der Quereinstieg („Ja, ich halte es für wesentlich, die Quereinsteigenden gut pädagogisch zu begleiten.“), verschiedene Themen aus dem Bereich der Sonderpädagogik („Ich bin der Meinung, dass alle Lehrkräfte eine Grundausbildung in Sonderpädagogik erhalten sollten – und zusätzlich eine Spezialisierung für diejenigen, die das machen möchten.“) sowie Stolpersteine der Geräteinitiative („Natürlich brauchen auch Kinder, die zwischendurch dazukommen, Laptops. Ich werde mir anschauen, woran das hakt.“).

Im Anschluss an das Gespräch mit Bildungsminister Wiederkehr tauschten sich die Lehrkräfte im Rahmen eines World Cafés zu Demokratiebildung, Deutschförderung, Digitalisierung & KI sowie Bildungsgerechtigkeit aus. Wir haben davon ein Fotoprotokoll erstellt. Bei Snacks und Getränken gab es dann die Möglichkeit, den Abend noch informell ausklingen zu lassen.

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Der Bildungstalk wurde auf Instagram live gestreamt. Sie können die Aufzeichnung des Livestreams gern nachschauen!

Fotos: (c) öbv / Robert Pichler

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