Bildungstalk: Heterogen – na und?

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Am 24. November versammelten sich Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen, um sich über vielfältige Klassen auszutauschen. Franziska Haberler und Verena Hohengasser teilten am Podium ihre Erfahrungen.

Vielfalt ist grundsätzlich etwas sehr Wertvolles. Schüler*innen waren schon immer unterschiedlich – und es gibt viele verschiedene Aspekte von Vielfalt: Lernniveau, Bildungshintergrund der Eltern, Deutschkenntnisse, Interessen, kulturelle Hintergründe und einfach unterschiedliche Bedürfnisse. Für Lehrkräfte kann es aber eine Herausforderung sein, auf viele Kinder mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen gleichzeitig einzugehen. Welche Tipps und Methoden helfen? Dazu lieferte der Bildungstalk mit Franziska Haberler und Verena Hohengasser wertvollen Input und Austausch.

Was wünschen sich Schüler*innen?

Zunächst brachten Isabel und Maxi aus dem öbv-Jugendbeirat die Perspektive der Schüler*innen ein. Beide sind aktuell in recht homogenen Schulen, waren früher aber auch in heterogeneren Klassen unterwegs. Sie hätten gern, dass junge Menschen in der Schule mehr aus ihrer „Bubble“ herauskommen und die Gesellschaft in einer Vielfalt erleben, wie sie tatsächlich Realität ist. Von Lehrkräften wünschen sie sich, dass sie darauf eingehen, wenn eine Klasse heterogen ist, die Vielfalt als etwas Positives sehen und möglichst gut Kinder mit verschiedenem Lerntempo mitnehmen.

Franziska Haberler (DaZ-Expertin, Mittelschullehrkraft und stellvertretende Direktorin an der Barbara Prammer Schule) und Verena Hohengasser (Head of Training bei Teach for Austria) teilten ihre Erfahrungen und Tipps zum Umgang mit heterogenen Klassen. Anschließend tauschten sich alle Anwesenden untereinander zum Thema aus. Die beiden Panelist*innen Ilkay Idiskut (Volksschullehrkraft, bekannt aus dem Kinofilm „Favoriten“) und Aron Marton (Modulare Mittelstufe Aspern) waren krankheitsbedingt leider sehr kurzfristig ausgefallen.

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Kinder mit Zusatzqualifikationen

Franziska Haberler betont zu Beginn des Podiumsgesprächs, dass Heterogenität in den Schulen gar kein neues Phänomen ist: „Wir hatten schon immer heterogene Klassen! Kinder waren noch nie homogen.“ Geändert hat sich ihrer Meinung nach die mediale Berichterstattung, deren Fokus darauf liegt, wie viele Kinder Deutschförderbedarf oder eine andere Erstsprache haben. Das Positive daran werde nicht berichtet, etwa dass die Kinder viele andere Sprachen sprechen.

Verena Hohengasser betont, wie wertvoll diese Vielfalt in den Klassenzimmern ist: „Da liegt so ein großer Schatz herum, den wir gar nicht richtig nutzen. Oder den wir sogar abwerten, weil wir denken, nur Deutsch ist wertvoll.“ Franziska Haberler hat mit ihren Schüler*innen eine Videoreihe für Instagram produziert, bei der sie deren Mehrsprachigkeit dezidiert positiv hervorhebt, etwa in diesem Video über Schüler*innen mit Zusatzqualifikationen. Sie plädiert dafür, vom Schwächenfokus wegzukommen und die Stärken der Kinder hervorzuheben. Das tut sie sehr bewusst durch vielfältige Aktivitäten im Schulalltag – etwa die Videoreihe. So zeigten sich ganz neue Talente der Kinder und Schüler*innen, die sich im „normalen“ Unterrichtssetting eher schwer tun. Diese positive Bestätigung und das Selbstwirksamkeitsempfinden seien entscheidend.

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Es muss nicht immer sexy sein

Verena Hohengasser berichtet, dass sie früher dachte, möglichst offenes Arbeiten und kreative Projekte machten guten Unterricht aus. Aber sie hat erlebt, dass gerade Kinder mit wenig Vorkompetenzen den Halt verlieren, wenn sie mit freien Aufgabenformaten konfrontiert werden. Bei zu offenem Unterricht besteht die Gefahr, genau die Kinder, die sich ohnehin schon schwer tun, zu verlieren. Wenn Kinder zu einem neuen Thema gleich selbst einen Podcast aufnehmen müssen, seien sie so darauf konzentriert, wie das mit der Aufnahme funktioniere, dass sie sich dabei den neuen Unterrichtsstoff nicht unbedingt sinnvoll erarbeiten.

Sie betont: „Wir müssen darauf schauen, was wissenschaftlich erwiesen und kognitionspsychologisch funktioniert. Auch wenn es nicht so sexy ist wie das coole Freiarbeitsprojekt oder eine innovative Methode.“ Sie steht hinter einem lehrkraftzentrierten Unterricht, bei dem die Aufmerksamkeit der Kinder sehr bewusst gelenkt wird und ihnen die Basics vermittelt werden, die sie brauchen. „Es geht nicht darum, einen Monolog zu halten, wie mein Geschichtslehrer früher. Aber lehrkraftzentrierter Unterricht ist trotzdem sinnvoll, man muss sich nur trauen, ihn neu zu denken.“ Bevor man also, gerade in einer heterogenen Klasse, einen Podcast aufnehme, sei es sinnvoll, zunächst im Klassenverband die Grundlagen zum Thema zu vermitteln und dann erst ins Anwenden zu gehen.

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Herrschaftsformen szenisch darstellen

Doch je nachdem, wie sie aufgezogen werden, können auch Projektarbeiten funktionieren. Franziska Haberler nutzt diese durchaus gern und erzählt ein Beispiel: Kürzlich waren im Unterricht Herrschaftsformen Thema. Die Schüler*innen hatten große Probleme, das zu verstehen und sich zu merken. Daher hat sie gefragt: „Was braucht ihr, um das zu verstehen? Was würde euch helfen, euch das zu merken?“ Die Schüler*innen haben vorgeschlagen, die Herrschaftsformen szenisch in kleinen Sketchen darzustellen. Das hat toll funktioniert und großen Spaß gemacht – und das Begreifen fiel vielen dadurch tatsächlich leichter. Außerdem konnten einmal andere Kinder als im klassischen Unterrichtssetting ihre Stärken zeigen. Natürlich war die szenische Darstellung auch nicht für alle Kinder das Richtige, aber: „Nächstes Mal frage ich dann wieder, dann schlagen andere Kinder etwas vor.“ Ihr Vorteil sei es, dass sie viel Zeit in einer Klasse verbringe, sodass sie sich nicht strikt an die 50-Minuten-Einheiten halten müsse. Häufig sei auch eine zweite Lehrkraft mit dabei, sodass sie die Gruppe teilen und den Schüler*innen, die es brauchen, eine zusätzliche Erklärung geben könnten.

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Differenzierung ohne Initialaufwand gibt es nicht

Sowohl der Jugendbeirat als auch die Lehrkräfte am Podium betonen: Kinder stören meistens nicht aus Böswilligkeit, sondern weil es ihnen gerade schwer fällt, das zu tun, was von ihnen erwartet wird. „Kinder sind auch oft schwierig, wenn sie unterfordert sind. Es macht Sinn, Kinder, die eher verhaltenskreativ sind, zu fordern. Dann sind sie mit etwas anderem beschäftigt als damit, wie sie Unruhe stiften können“, gibt Franziska Haberler zu bedenken. Gleichzeitig steigen Kinder natürlich aus, wenn sie überfordert sind. Genau das ist die Krux in heterogenen Klassen: Wie schaffe ich es, möglichst niemanden zu unter- oder überfordern?

Verena Hohengasser plädiert für ein anspruchsvolles Niveau. Es sei wichtig, den Schüler*innen zuzutrauen, auch für sie komplizierte Sachverhalte zu verstehen und ihnen zu vermitteln: „Ich glaube, du schaffst das.“ Dabei dürfe ruhig das Ziel oder die Aufgabe für alle gleich sein. Aber Scaffolding sei wichtig: Wer braucht dafür vielleicht noch eine extra Anleitung, eine Vokabelliste oder zusätzliche Hinweise? Natürlich sei Differenzieren aufwendig. „Da habe ich eine sehr idealistische Vorstellung“, so Verena Hohengasser, „That’s the job, dafür bist du angetreten!“ Man müsse sich zu Beginn einmal den Aufwand machen, sich anzueignen, wie wirksame Differenzierung geht. Aber dann könne man es ständig einsetzen. Und sie macht Hoffnung: „Es war noch nie so einfach, differenziertes Unterrichtsmaterial zu erstellen. Wenn ich will, sogar angepasst an jedes Kind.“

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Beziehung entsteht durch Klarheit

Beide setzen beim Unterrichten auf Beziehung. Aber es sei ein Missverständnis, dass das bedeute, dass jedes Kind jeden Moment des Schultags toll finden müsse. Im Gegenteil: Verena Hohengasser wirbt für ein positiveres Verständnis von Strenge: „Beziehung entsteht durch Klarheit.“ Dass zum Beispiel jede Lehrkraft, die das Klassenzimmer betritt, bis zu einem gewissen Grad eigene Regeln aufstelle, ziehe bereits Energie und Aufmerksamkeit vom Arbeitsgedächtnis der Schüler*innen ab. Verlässlichkeit sei wichtig: „Das sind die Regeln und ich sorge dafür, dass sie eingehalten werden.“ Wenn Kinder nicht beginnen an einer Aufgabe zu arbeiten, sei es auch wichtig, sich zu fragen: „War ich klar genug? Verstehen sie, was sie wie genau tun sollen?

Wie kann man sonst Aufmerksamkeit stärken? „Die Kunst am Unterrichten ist es, jede Person jederzeit eingebunden zu haben. Wenn die Schüler*innen wissen, dass ich erwarte, dass sie aufpassen und sie jederzeit ansprechen kann, sind sie gedanklich mehr dabei“, erklärt Verena Hohengasser. Dabei gehe es nicht darum, dass die Lernenden immer perfekte Antworten gäben, sondern dass sie zeigen, dass sie mitgedacht haben.

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Catch them being good

Außerdem sei es sinnvoll, das gewünschte Verhalten hervorzuheben und dafür Aufmerksamkeit zu geben. Häufig bekämen Kinder Aufmerksamkeit durch auffälliges Verhalten. Wenn aber plötzlich nicht das Kind Aufmerksamkeit erhält, das den Unterricht stört, sondern diejenigen, die mit dabei sind und schon konzentriert arbeiten, könne das die Aufmerksamkeitsspirale bereits drehen. „Am besten wird man eine Detektivin dabei, die Dinge zu finden, die schon gut laufen. Ganz nach dem Motto ‚catch them being good‘!“, ermutigt Verena Hohengasser.

Franziska Haberler wiederum gibt sich besondere Mühe, ihre individuellen Präferenzen zurückzunehmen. „Natürlich sind mir erst einmal nicht alle Kinder gleich sympathisch“, gibt sie zu. Es gebe immer wieder Kinder, die sie besonders herausfordern und ihre Triggerpunkte treffen. Aber es sei für die Beziehung wichtig, dass sie auch diesen Kindern positiv begegne. Kinder sind sehr sensibel und spüren Ablehnung sofort. „Deshalb versuche ich ganz bewusst, positive Eigenschaften an den Kindern zu finden, die mich am meisten herausfordern“, berichtet sie. Diese Punkte führe sie sich dann immer vor Augen, wenn es ihr gerade schwer fällt, einem Kind wertschätzend zu begegnen, und baut sie nach Möglichkeit gleich in den Unterricht ein.

Einen schönen und entlastenden Abschlussgedanken liefert Isabel aus dem Jugendbeirat. Sie schätzt es sehr, wenn eine Lehrkraft auch einmal Fehler zugibt oder offen sagt: „Ich habe gerade eine extrem stressige Woche, ich bin nicht perfekt vorbereitet.“ Wenn Lehrkräfte damit offen sind, merken Schüler*innen, dass es okay ist, Fehler zu machen.

Im Anschluss an das Podiumsgespräch und die Fragen aus dem Saal gab es noch die Gelegenheit zu Austausch untereinander bei Snacks und Getränken.

Weiterhin neugierig?

Verena Hohengasser empfiehlt das Buch „Teach like a Champion“ von Doug Lemov.

Viele spannende Gedanken und Gespräche über über Herausforderungen im Schulalltag gibt es im öbv-Podcast #klassezwanzigzukunft. Zum Thema „heterogene Klassen“ haben wir mit Isabella Benischek, Leiterin des Ausbildungsinstituts der KPH Wien/Niederösterreich, eine sehr interessante Folge aufgenommen.

Fotos © öbv / Wirlphoto

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