Wie steht’s um Mental Health im Klassenzimmer?

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Titelbild Magazin Podcast Golli Marboe Mental Health

Wie kann in der Schule die psychische Gesundheit von Lehrkräften und Schüler*innen gestärkt werden? Darüber spricht Golli Marboe, Initiator der Mental Health Days, im Podcast #KlasseZwanzigZukunft.

Ein Fünftel der Lehrkräfte in Österreich ist häufig gestresst. Neun Prozent sagen, ihre mentale Gesundheit leide stark unter dem Beruf. In einer Schule, in der Leistungsdruck, Personalmangel, Verhaltensauffälligkeiten, Digitalisierung, Elternansprüche und gesellschaftliche Krisen aufeinandertreffen, stellt sich eine zentrale Frage: Wie kann Schule ein Ort werden, der psychische Gesundheit stärkt – für Schüler*innen und Lehrkräfte? Darüber hat öbv-Geschäftsführer Philipp Nussböck im Podcast #KlasseZwanzigZukunft mit Golli Marboe gesprochen, dem Initiator der Mental Health Days sowie Journalist und Autor von „Jugend unter Druck“.

Psychische Gesundheit ist kein Trend

Gleich zu Beginn macht Golli Marboe klar: Psychische Gesundheit ist kein Trend, sondern Teil unserer Lebensrealität. Seine persönliche Geschichte ist der Ausgangspunkt für sein Engagement: Einer seiner Söhne ist durch Suizid gestorben, was ihm bewusst gemacht hat, wie wenig Wissen selbst gut informierte Familien über Warnsignale, Hilfsangebote und den Umgang mit psychischen Krisen haben.

Was für Familien gilt, gilt auch für Schulen: Meist gibt es zu wenig Wissen rund um psychisches Wohlbefinden. Lehrkräfte sind zumeist sehr engagierte Menschen und viele von ihnen fühlen sich durch ihren Beruf auch psychisch belastet. Zusätzlich verspüren einige die Verantwortung, psychische Gesundheit im Schulalltag zu thematisieren und für ihre Schüler*innen da zu sein. Nicht immer ist klar, wo vertrauensvolle Gespräche ausreichen und wo professionelle Hilfe nötig ist? Was kann ich tun, wenn ein*e Jugendliche*r kaum mehr schläft, nicht isst oder sich zurückzieht? Oder welche Unterstützung gibt es, wenn Kolleg*innen sichtbar überlastet sind?

Die klare Botschaft der Podcastfolge: Schule muss ein Schutzraum sein. Aber: Schule ist kein Therapiezentrum – und Lehrkräfte müssen und sollen keine Therapeut*innen sein.

Von anderen Sozialberufen lernen

Die Anforderungen an Lehrkräfte gehen weit über Fachwissen hinaus. Wer täglich mit jungen Menschen arbeitet, begleitet Biografien, Krisen, Konflikte, familiäre Themen, Identitätssuche.

„Der Lehrberuf ist längst auch ein Sozialberuf. Daher bräuchte es regelmäßige Supervision. Auch Intervision ist keine Zeitverschwendung mit Kuchenparty, sondern notwendig, wenn man täglich so viel gibt und aufnimmt.“

Daher sollten gute Ideen aus anderen Sozialberufen übernommen werden. Dazu gehören etwa regelmäßige Supervisions- und Intervisions-Angebote. Für Golli Marboe ist das kein „Nice-to-have“, sondern eine professionelle Antwort auf eine Realität, in der Lehrkräfte emotional Höchstleistungen erbringen.

Für Schulteams bedeutet das:

  • Räume für Supervision und Intervision als selbstverständlichen Teil der Arbeitskultur etablieren.
  • Belastung nicht individualisieren („Du bist halt nicht belastbar genug“), sondern als strukturelle Herausforderung verstehen.
  • Offene Gesprächsräume schaffen, in denen Sorgen, Konflikte und Überforderung ausgesprochen werden dürfen.

Wenn Lehrkräfte als Menschen gesehen werden, die Unterstützung verdienen, statt immer noch „ein bisschen mehr“ leisten zu sollen, ist das bereits gelebte Prävention.

Lehrkräfte sind keine Therapeut*innen

Wenn es darum geht, Schüler*innen beim Thema psychische Gesundheit zu begleiten, ist Golli Marboe wichtig: Lehrkräfte sind keine Therapeut*innen. Er warnt davor, dass Pädagog*innen Aufgaben übernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind.

„Keine Pädagogin würde einem Kind mit Blinddarmentzündung den Bauch aufschneiden. Warum denken aber viele, dass sie eine Essstörung, Depression, Angststörung oder ADHS mit einem liebevollen Gespräch in Ordnung bringen können? Das können sie nicht.“

Lehrkräfte könnten keine Diagnosen stellen, Therapien ersetzen oder psychische Probleme der Schüler*innen lösen. Was sie aber anbieten können: Schüler*innen als Menschen wahr- und ernst nehmen, Beziehung anbieten, Unterstützung signalisieren und professionelle Hilfsangebote kennen und empfehlen.

Gerade für Kolleg*innen, die „immer für alle da sind“, ist diese Differenz entscheidend. Nicht helfen ist falsch – alles selbst lösen zu wollen aber auch. Die Podcastfolge erinnert daran, dass verantwortungsvolles Handeln auch heißen kann zu sagen: „Ich sehe, dass es dir nicht gut geht. Ich bleibe an deiner Seite – und hole jemanden dazu, der jetzt wirklich helfen kann.“

Mental Health als Fixpunkt

Ein Kernanliegen von Golli Marboe: Psychische Gesundheit gehört selbstverständlich ins Grundwissen einer Schule. Nicht, um Lehrkräften noch mehr aufzubürden, sondern um ihnen Sicherheit zu geben. Er fordert, dass in jeder Schule regelmäßig Fortbildungen zu Themen wie Depression und Angststörungen, Essstörungen, ADHS, Suizidalität und Krisenintervention oder Umgang mit Panikattacken stattfinden. Lehrkräfte müssen wissen, wo Empathie aufhört und Krankheit beginnt. Sie sollen unterscheiden können zwischen Lebenskrisen (Trennung der Eltern, Orientierungssuche, Stress vor Prüfungen) und psychischen Krankheiten, die professionelle Hilfe erfordern.

Für österreichische Schulen heißt das konkret:

  • Mental Health als Fixpunkt in Konferenzen und als SCHiLFs verankern.
  • Schulpsychologische Angebot sichtbarer machen – für Schüler*innen, aber auch für Lehrkräfte.
  • Hilfsangebote im Umfeld kennen (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Beratungsstellen, Krisentelefone, Onlineangebote) und im Kollegium teilen.

Je selbstverständlicher dieses Wissen ist, desto mehr werden Lehrkräfte ermächtigt, Situationen einzuschätzen und zu wissen, was zu tun ist oder welche Unterstützung sie empfehlen können.

Selbstfürsorge ist kein Luxus

Wenn über Mental Health im Schulsystem gesprochen wird, geht es oft um die Schüler*innen. Die Podcastfolge geht bewusst auch darauf ein: Wie geht es eigentlich den Lehrkräften? Wie können sie mit eigenen psychischen Belastungen umgehen und welche Unterstützungsangebote gibt es?

Golli Marboe plädiert dafür, dass Lehrpersonen sich früher und öfter Hilfe holen – nicht erst dann, wenn nichts mehr geht. Psychologische Beratung oder Psychotherapie sind kein Zeichen von Schwäche. Sie bei Bedarf in Anspruch zu nehmen, gehört zu einem professionellen Umgang. Aber auch abgesehen davon können Lehrkräfte im Alltag einige Dinge beachten oder kleine Routinen einbauen, um ihre psychische Gesundheit zu priorisieren:

  • Den Tag bewusst beginnen: „Freue ich mich auf das, was kommt – oder macht es mir Angst?“
  • Eigene Belastungsgrenzen ernst nehmen, statt sie ständig zu verschieben
  • Im Kollegium Verbündete suchen, statt sich zu isolieren

Im Gespräch kommt das Bild der Sauerstoffmaske aus dem Flugzeug auf: Jede*r sollte zuerst die eigene Sauerstoffmaske anlegen und dann erst anderen helfen. Das ist kein Egoismus, sondern die Voraussetzung dafür, langfristig für Kinder da sein zu können.

Fehlerkultur, Normdruck und Perfektionsanspruch

Ein weiterer Schwerpunkt des Gesprächs ist der Umgang mit Fehlern, Abweichungen und „Normalität“. Schulen – und unsere Gesellschaft – fokussieren stark auf das, was nicht passt. Auf Leistungen, die „zu wenig“ sind, auf Verhalten, das „stört“, auf Biografien, die „nicht der Norm entsprechen“.

„Wir Menschen sind wie Schalen, die nach einem Bruch wieder zusammengefügt werden. Die Risse bleiben sichtbar, aber genau das macht uns einzigartig. Perfektion gibt’s bei Ikea. Das kann kein Bildungsziel sein.“

Er zeigt Schulklassen oft vier einfache Mathe-Aufgaben und fragt, was den Schüler*innen auffällt. Meist erhält er die Antwort: „Eine Lösung ist falsch!“ Dass drei Aufgaben richtig gelöst sind, wird nur in den seltensten Fällen erwähnt. Er empfiehlt, im Klassenzimmer Unterschiedlichkeit nicht als Problem, sondern als Normalfall zu sehen und weniger auf Fehler und Perfektion zu fokussieren. Es sei wichtig, regelmäßig auf Positives, auf Lernfortschritt und gelungene Aufgaben hinzuweisen. Und Jugendliche müssen merken: Nur weil ihnen etwas schwer fällt, heißt das nicht, dass sie falsch oder schlecht sind. Psychische Gesundheit braucht ein Bildungsverständnis, das nicht auf Perfektion, sondern auf Entwicklung setzt.

Schulfach Mental Health?

In der öffentlichen Diskussion kommt immer wieder der – sicher gut gemeinte – Vorschlag auf, psychische Gesundheit als eigenes Fach im Schulalltag zu verankern. Golli Marboe ist von diesem Ansatz nicht überzeugt. Er ist kein Freund neuer Fächer, sondern sieht Mental Health als Querschnittsmaterie, die überall mitgedacht werden sollte.

„Wie jedes Gesetz nun auf seine Auswirkungen aufs Klima überprüft werden muss, sollten Entscheidungen in der Schule daraufhin überprüft werden, welche Auswirkungen sie auf die psychische Gesundheit aller Beteiligten haben.“

Seine Einladung an Lehrkräfte und Schulleitungen:

  • Jede schulische Entscheidung – von Leistungsbeurteilung bis Stundenplan – unter dem Blickwinkel der psychischen Gesundheit zu überdenken.
  • Mental Health in bestehende Fächer, Projekte und Rituale zu integrieren: in Ethik, Deutsch, Religion, Geschichte, Sport, Projekttagen und Klassenvorstandsstunden.
  • Schulentwicklung nicht nur in Zahlen (Maturaquoten, Tests), sondern auch in Schulklima, Beziehungen und Beteiligung zu messen.

So entsteht eine Schule, die nicht „auch noch“ Mental Health macht, sondern in der psychische Gesundheit Teil von Struktur, Sprache und Alltag wird.

Drei Hebel für den Schulalltag

Am Ende des Podcasts formuliert Golli Marboe drei konkrete Impulse, von denen Lehrkräfte zumindest zwei sofort im Schulalltag umsetzen können:

  1. Späteren Schulbeginn ernsthaft diskutieren:
    Schlafforschung zeigt seit Jahren: Jugendliche brauchen mehr Schlaf und einen späteren Start. Schulautonomie ermöglicht Spielräume – sie zu nutzen, wäre gelebte Prävention.
  2. Eigene Befindlichkeit wahrnehmen:
    Sich morgens beim Zähneputzen fragen: „Freue ich mich auf den Tag?“ Wenn die Antwort dauerhaft Nein ist: professionelle Hilfe in Betracht ziehen, bevor es kracht.
  3. Normen hinterfragen und Anderssein normalisieren:
    Wer Unterschiedlichkeit als Qualität versteht, nimmt vielen Schüler*innen (und Kolleg*innen) den Druck, immer reibungslos „funktionieren“ zu müssen. Das reduziert Scham – einen zentralen Risikofaktor für psychische Krisen.

Damit Mental Health im Alltag nicht zwischen Korrekturbergen und Konferenzen verloren geht, empfiehlt er Schulen außerdem:

  • Kollegiales Netz stärken: Fixe Austauschformate im Team (Intervision, Peer-Gespräche, gemeinsame Reflexion zu schwierigen Situationen).
  • Kompetenzen sichtbar machen: Wer im Kollegium hat Zusatzausbildungen, Erfahrung mit Krisen, gute Kontakte zu Hilfsangeboten? Dieses Wissen sollte gebündelt und geteilt werden.
  • Schulpsychologie & externe Angebote aktiv nutzen: Informationen zu Unterstützungsangeboten bewusst an Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen weitergeben – und zwar nicht als „Notlösung“, sondern als dauerhafte Ressource.

Vor allem legt Golli Marboe es Lehrkräften ans Herz, mutig zu sein. Sie haben oft mehr pädagogische Freiheiten, als sie glauben und können Unterricht so gestalten, dass Beziehung, Gesprächskultur, Reflexion über Gefühle und Umgang mit Druck Platz haben.

Psychische Gesundheit im Klassenzimmer ist weder ein Tabuthema noch ein Zusatzprojekt, sondern wichtiger Teil eines modernen Bildungssystems. Lehrkräfte sollen dabei nicht noch mehr tragen, sondern besser gestützt werden – durch Strukturen, Wissen, klare Zuständigkeiten und eine Kultur, in der niemand perfekt sein muss, um wertvoll zu sein.

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Die ganze Podcastfolge finden Sie im Podcast #KlasseZwanzigZukunft – überall, wo es Podcasts gibt!

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